Sandor Marai
väterlichen Heim. Es
gab viele unter den Zöglingen, die die Ferien ebenfalls als lästige Pflicht
empfanden, die zu Weihnachten oder im Sommer nur ungern zu ihrer Familie heimfuhren
und schon vorzeitig in das Pensionat zurückkamen. Sie kamen sogar freudig
zurück, als wollten sie von den Mühen eines
anstrengenden Familienfestes ausruhen, es war, als streiften sie beengendes
Schuhwerk von den Füßen und schlüpften statt dessen in bequeme Pantoffeln – so
nahmen sie dann in dieser größeren und doch vertrauteren Familie unter den
Erziehern und Kameraden behaglich wieder Platz. Er war nicht der einzige, der
sich hier so heimisch fühlte – und wenn er auch nicht die Innigkeit wahren
Familienlebens vorfand, so fühlte er sich im Internat doch so wohl wie in einem
wohltemperierten Zimmer, in dem man weder vor Kälte erstarrte noch vor Hitze
rote Backen bekam. Viele der Jungen kamen nach den Feiertagen verstört aus dem
Kreis ihrer Familie zurück – es dauerte Wochen, bis sie sich beruhigten, ihre
Sicherheit wiederfanden und sich vergewissert hatten, daß sie einer
Gemeinschaft angehörten, in der ihnen Charakter und Fähigkeit einen
menschlichen Rang sicherten.
Die familiäre Atmosphäre war ihnen
noch lange anzumerken – die Aufregungen der Heimreise, die Unsicherheit, die
sie zu Hause erfüllt hatte, der Wechsel zwischen Furcht und kleinlichen
Eifersüchteleien. Viele Knaben kamen aus solchen Verhältnissen, aber sicher
gab es auch andere Familien, denn es gab externe Schüler, die angenehm
ausgeglichen waren und eine selbstvergessen-glückliche Ahnungslosigkeit
ausstrahlten. In ihrer Nähe erst wußte man um die Innigkeit richtigen
Familienlebens, um die wärmende Atmosphäre vertrauten
Beisammenseins. Von diesen Jungen fühlte sich Christoph angezogen. Was mochte
wohl seine Familie von einer »richtigen« unterscheiden? Er grübelte oft
darüber nach – er erfuhr es nie. War es die Mutter, die ihnen fehlte? Aber es
gab viele Pensionäre, deren Eltern nicht getrennt lebten und die das Kind nur
unter dem Vorwand gesellschaftlicher und erzieherischer Gründe in das Internat
schickten; viele von diesen fühlten sich genauso heimatlos wie er, und wie er
sehnten sie sich zurück in die Vertrautheit dieses Kreises, der ihnen die
Familie ersetzte, wie er suchten sie die Nähe der Externen, die mit dem Hauch
von Familie und Heim behaftet waren.
Später, als
Christoph Kömüves bereits Familienvater war, erinnerte er sich manchmal seiner
Kindheit und konnte dann ohne Klage, ohne Schmerz und ohne Unzufriedenheit an
die Jahre denken, die er im Internat verbracht hatte. Er empfand, daß er, dank
einer besonders glücklichen Fügung, auch ohne Mutter und familiäre
Geborgenheit stets im Gleichgewicht hatte bleiben können. Diese glückliche
Fügung seiner Jugendjahre hieß Pater Norbert.
Von Pater Norbert erhielt er, was
oft weder Mutter noch Familie und Geschwister zu geben vermögen: Mit der kaum
wahrnehmbaren Geste des genialen Erziehers stellte ihn Pater Norbert unter den
Schutz einer menschlichen Gemeinschaft. Christoph Kömüves fragte sich später, ob er denn seinen eigenen
Kindern dieses Gefühl der Geborgenheit zu geben vermochte, ob die Familie für
sie ein so schützendes Dach war wie für ihn einst der menschliche Kreis, in den
der Pater ihn gestellt hatte. Als er im Laufe des Lebens seine Mitmenschen
kennen- und ihre Schicksale ergründen lernte, nahm er wahr, daß Menschen aus
wenig glücklichen Verhältnissen oft viel ausgeglichener und widerstandsfähiger
waren als die anderen. Oft kamen sie aus ärmlichen kinderreichen Familien,
wohl hatten Geld, Eifersucht und vielerlei Leidenschaften in den Seelen der
Familienangehörigen ein zerstörendes Werk verrichtet – aber der Geist der
Familie war nicht vernichtet worden. Wie war das zu erklären? Aus welchen Reserven
nährten sich diese Seelen?
Man gab
viel auf die Psychoanalyse, die Kinder der Bürger wurden geradezu unter
ärztlicher Kontrolle aufgezogen, gehütet und mit seelischen Nährmitteln
gepäppelt. Die neue Erziehungsmethode untersagte den Eltern Schläge und unbegründetes
Verbieten – man durfte nur noch erklären, erlauben und erläutern. Kömüves war
überzeugt, ein guter Vater zu sein, doch diese modernen Vorschriften beachtete
er nicht. Viel entscheidender, so fand Kömüves, war die innige familiäre
Atmosphäre und das aufrichtige Vertrauen zwischen Eltern und Kindern. Wenn die
Familie in dieser Weise einig war, dann durften die
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