Sandor Marai
Eltern auch zanken, das
Kind konnte gestraft werden, und der Vater
konnte mißgestimmt sein – die Familie war trotz alledem eine Gemeinschaft,
niemand fröstelte, und die Kinder erlitten keine seelischen Schocks wegen
einer väterlichen Ohrfeige. Vater und Mutter mochten zueinander
leidenschaftlich zärtlich oder leidenschaftlich gewalttätig sein, sie durften
sich streiten oder liebkosen, letzten Endes gehörte dies zur Familie wie Geburt
und Tod, Waschtag oder Obsteinmachen, es zählte nur das Ganze, und das Kind
fühlte sich auch in der Nähe des strengen Vaters heimisch. Diese Art des
Familiengefühls war sicher sehr bedeutungsvoll für das Leben des Menschen,
aber freilich war diese Eintracht, diese im guten wie im bösen veränderliche,
mit menschlichen Schwächen durchflochtene Familiarität nur dann von Wert, wenn
sie zutiefst aufrichtig und ungekünstelt war. Wer aber konnte die innere Beschaffenheit
einer Familie beurteilen?
Bei ihnen zu Hause gab es Ruhe,
Zärtlichkeit und freundliche Umgangsformen. Kömüves bemühte sich, daheim immer
aufrichtig zu sein, ohne Maske näherte er sich seiner Frau und seinen Kindern.
Mit diesem Glauben, daß zu Hause alles in Ordnung sei, beruhigte er sich, wie
man sich mit einer polizeilichen Feststellung abfindet – ja, es war alles so,
wie es sein mußte.
Christoph also war in seiner
Kindheit von Pater Norbert liebevoll aufgenommen und mit Surrogaten ernährt
worden – mit einer Art geistigem Ersatz, gleichwie man
Muttermilch durch Nährmittel ersetzt.
Die Kur war jedoch wirkungsvoll, und
Christoph kam zu Kräften. Der Mönch zählte vielleicht fünfzig Jahre, als der
Sohn des berühmten Richters in seine Obhut kam. Jedes Kind erzog der Pater
individuell, gewissenhaft untersuchte er die Herkunft und die seelische
Konstitution der Zöglinge; er wußte auch über Christoph alles: daß er Halbwaise
war, nahm er hin, als wäre der Junge durch eine Verletzung verstümmelt. Er
lernte auch den Vater kennen und wußte nach einigen vorsichtig und höflich
geführten Unterredungen wahrscheinlich mehr über die Wunden dieser stolzen
Seele, als Gabriel Kömüves sich je eingestanden hätte. Mit einer Zuneigung, die
niemand parteiisch nennen konnte, zog der Pater Christoph an sich; denn als der
geistige und moralische Leiter des Instituts war er streng und gewissenhaft
darauf bedacht, kein Kind mit seiner Liebe auszuzeichnen. Pater Norbert hatte
keine Günstlinge, aber er war selbstverständlich von einem Kreis Auserwählter
wie von einer Leibgarde umgeben, da ein solcher Zusammenschluß innerhalb einer
Gemeinschaft nicht verhindert werden kann. Pater Norbert hatte Christoph gern,
und so beschenkte er ihn still und verhalten mit seiner Zuneigung, war Kamerad
und wahrte dennoch seine Autorität. Nach drei Jahren jedoch erkrankte er, und
Christoph blieb wieder allein. Die Zeit, die er unter der
Führung des Paters verleben durfte, hatte genügt, um die Kinderseele mit
geheimnisvollen Energien zu füllen – Christoph lebte lange von diesen
aufgespeicherten Kräften. Wenn er auch den Pater eigentlich nie verstanden hatte.
Offenbar hatte es in dessen Seele etwas gegeben, was Kömüves fremd war – ein
Geheimnis, das nicht zu erforschen war, wenn es überhaupt ein Geheimnis war!
Jedenfalls verstand er Pater Norberts Geheimnis immer weniger, je älter er
wurde: sein Lächeln, sein Gleichgewicht, seine Freude am Leben – ohne Vorwand
und Anlaß.
Pater
Norbert hatte keine Familie, hielt das asketische Gelübde des Ordens ein und
war ärmer als irgendeiner, dem Christoph je begegnet war: Er besaß nur einige
Kleidungsstücke und Bücher. Nie ging er in Gesellschaft, er war auch kein lauter
Bekehrer, sondern wirkte still in seinem geschlossenen Kreis. Wer aber in
seine Nähe gelangte, stellte erstaunt fest, daß dieser Mann wirklich lebte und
an den Exerzitien und Regeln nicht zugrunde ging. Pater Norbert konnte lächeln,
und er lächelte gerne. Er kümmerte sich wenig um seinen gebrechlichen Körper,
und als er von den ersten Herzattacken gepeinigt wurde, lebte er noch lange
ohne ärztliche Behandlung und ohne ein Wort darüber zu verlieren. Auch seine
Ordensbrüder wußten nicht von seiner Krankheit. Er lebte sehr mäßig, rauchte
nicht, trank keinen Alkohol, schlief wenig und arbeitete viel. Aber die Arbeit
war nicht in ein Programm
gefaßt, sondern sie gedieh selbstverständlich und wie zufällig unter seinen
Händen. Nie war er steif und unzugänglich, er mied das Leben nicht,
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