Sandor Marai
wußte, daß es noch nicht zu spät
wäre. Das Gift braucht vier bis fünf Stunden, um sich völlig im Körper zu
verteilen. Mein ärztliches Wissen funktionierte durchaus, ich war mir meiner
Pflicht bewußt, ich holte aus der Schublade die Magenpumpe hervor, meine Hand
hatte schon den Telefonhörer ergriffen, um die Ambulanz zu bestellen. Ich wurde
wieder zum Arzt, die Nerven handeln in solchen Fällen mit einer wunderbaren
Bereitwilligkeit. Ich füllte eine Spritze mit einer herzbelebenden Arznei und
trat zu Anna, Spritze und Magenpumpe in den Händen.
Sie war
schon bewußtlos, diese Bewußtlosigkeit ist aber noch nicht der Tod, das wußte
ich sehr gut. Ich warf die Magenpumpe auf den Tisch, hob mit zwei Fingern das
geschlossene Lid, die Reflexe waren schon starr. So stand ich ... Ach, ich
kannte doch Annas Organismus, ich kannte die Kraft des Mittels, die Dosis. Ich
wußte, wann und wie ihr Körper darauf reagieren mußte, ich sah klar, daß die
Dosis tödlich war, nur konnte sie noch nicht vollkommen absorbiert sein, ich
konnte noch helfen, in diesem Augenblick, vielleicht noch eine halbe Stunde
lang. Der Puls ist schwach und schleppend, wenn ich aber jetzt, in diesem
Augenblick, alles versuche, kann ich sie vielleicht noch ins Leben
zurückbringen. Vielleicht? Sicher sogar – ich wäre kein Arzt, wenn ich sie
nicht wiederbeleben könnte. Ich setze mich neben sie und blicke sie
an. Ich wische mit einem Taschentuch den Schaum von ihren Lippen. Ich
betrachte sie lange, und da weiß ich plötzlich, daß ich Anna nicht retten
werde. Sie hat diesen Weg betreten, und das Schwerste liegt schon hinter ihr.
Sie ist nicht mehr bei Bewußtsein.
Nun kann sie wie im Traum – ja, tatsächlich ›wie im Traum‹ – vom Leben in den
Tod hinübergehen. In diesem schwebenden, geistesabwesenden Zustand, ein wenig
so, wie sie gelebt hat. Schöner kann man nicht scheiden. Ich halte ihre Hand,
der Puls wird immer schwächer, matter. Es ist ein seltsamer Rhythmus. Einen
Augenblick muß ich von Anna weggehen, es ist schon acht Uhr, die Bedienerin
klingelt. Ich gehe ins Vorzimmer und schicke sie nach Hause, dann hänge ich ein
Schild an die Eingangstür: ›Doktor Greiner verreist‹. Ich gehe zu Anna zurück.
Jetzt wäre bereits alles vergebens, was immer ich auch tun würde. Der Körper,
der vor mir liegt – dieser kostbare, dieser süßeste Körper –, ist nur mehr ein
Haufen von Zellen, in dem noch die letzten winzigen Lichter des Bewußtseins
blinken. Dieser Körper, der sich mir nie ganz geschenkt hat! Ich stütze die
Ellbogen auf die Knie und betrachte sie.
Ja, hier geschah ein Unfall, für den
niemand beschuldigt werden kann. Sie stieß im Chaos dieser Erde mit jemandem
zusammen, und verwundet wandelte dann die Seele auf ihrer Bahn weiter, sie
konnte sich nie mehr erholen. Was hätte ihr noch bevorgestanden? Was steht denn
solchen Kranken bevor? Diese hier ging so leicht fort. Mit dem müden, süßen und
traurigen Lächeln, das ich kannte und so sehr liebte. Dieses Lächeln war sie
selbst ... Anna, und den schwachen Widerschein dieses Lächelns finde ich auch
noch zu dieser Stunde auf dem reglosen Antlitz. Unterdessen ist es Mittag
geworden. Ich fühle ihren Puls nicht mehr. Seit wie vielen Stunden sitze ich
hier? Im Morgengrauen habe ich ihre Bewußtlosigkeit bemerkt, nun blikke ich auf
die Uhr – nachmittags, drei Uhr ist es nun. Seit beinahe acht Stunden sind wir
hier so seltsam zu zweit. Dieses Beisammensein zu zweit gehört mir. Das sind
die Stunden, in denen ich Anna verstehe und die Mächte erkenne, die das Leben
und den Tod nähren. Gegen vier Uhr decke ich Anna mit dem Tuch zu, das sie oft
und gerne getragen hat. Ich weiß schon, daß ich gemordet habe – wie nennen eure
Gesetzbücher den Fall? Ach, ich kümmere mich nicht um Paragraphen ...
Ich gehe ins Badezimmer und rasiere
mich. Daraufhin kehre ich ins Sprechzimmer zurück und werfe die Spritze weg,
mit der ich Annas Herz stärken wollte, nehme eine andere zur Hand und fülle sie
mit Morphium; ich hebe den Hemdärmel hoch und reibe die Hautfläche mit einem
Äthertampon ... Diese Gebärde aber erschreckt mich. Ich will also scheinbar
noch nicht sterben.
Ich habe noch etwas zu tun. Diese kleine ärztliche Vorsicht ist es, die mich
darauf aufmerksam macht, daß ich nicht ehrlich bin und noch nicht sterben
will. Wenigstens nicht gleich. Vorher muß ich noch etwas erledigen, etwas erfahren.
Ich muß die Wahrheit erfahren ... die zweite Hälfte des Satzes. Anna
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