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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Nacht vor der Scheidung
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Anna leben, es gibt so vielerlei Arten des Lebens. Nur diese Leere
nicht! Ja, so fing es an – und so lebten wir von nun an. Noch vier Jahre lang!«
    Er hebt den Zeigefinger. »In der
ärztlichen Sprache heißt es ›Frigidität‹! Eines Tages, nach vier Jahren Ehe,
nach einem Zusammenleben um jeden Preis, muß ich erfahren, daß Anna so ist ...
Bis dahin habe ich es nicht bemerkt. Es ist nicht leicht zu erkennen ... Anna
wußte auch nichts
davon. Die Erscheinung ist vielleicht häufig. Als ich jetzt, so unmittelbar,
dem Phänomen begegne, untersuche ich es gründlich, sammle klinisches Material
und bin bestürzt, wie oft es vorkommt. Ich analysiere Tragödien und finde
dieselbe Ursache. Es fallen Familien auseinander, es flüchten Menschen in den
Tod oder verlieren ihre Arbeitslust, vernachlässigen ihr Handwerk, ihre soziale
Verantwortung, die Gefühle erkalten und gehen verloren, oder sie werden staubig,
und eines Tages zerfällt das Leben in seine Bestandteile ... Und hinter allem
finde ich einen frigiden Lebensgefährten.
    Ich fange
an zu forschen, ich werfe alle Theorien hin und mache mich allein auf den Weg
in diesen Urwald. Ich muß ihn durchdringen. Man kann sich damit nicht einfach
abfinden, ich begegne auch tröstlichen Symptomen. Ich will abrechnen – einmal
muß man es ja tun – und sage wichtigtuerisch: Die Frigidität ist zum größten
Teil eine Folge sozialer Probleme. Der Grund mag die Erziehung sein, das
Milieu, die Angst, alles, was der Preis der Zivilisation ist. Sie ist stärker
ausgeprägt bei denen, die durch ihre soziale Lage gesteigerte Verantwortung
für diese Zivilisation tragen. Unten in den Niederungen ist alles weicher und
gelöster. Ich habe festgestellt, daß in unserer Gesellschaftsklasse die meisten
Frauen frigide sind«, dies sagt er hart und mit scharfer Stimme.
    Der Richter
schlägt mit dem Papiermesser auf den Tisch. »Entschuldige«,
widerspricht er, »das ist eine Verallgemeinerung. Alle Verallgemeinerungen
sind billig – und gefährlich.«
    »Ich habe vorsichtig gesprochen«,
sagt der Arzt hartnäckig. »Ich sagte: die meisten, und: in unserer
Gesellschaftsklasse. Scheinbar ist es die Folge einer Steigerung der
Zivilisation. Die Affekte sind erlahmt. Die Lebensformen desgleichen. Meist
kann man nur die Erscheinung feststellen, selten gelingt es, die Störung zu
lindern. Ich komme nahezu in den Ruf eines Wunderdoktors. Leute, die in großer
Not sind, wittern überall Hilfe. Helfen kann ich freilich nicht. Nur eben
lindern. Meine Patienten interessieren mich nicht, stell dir vor, daß jemand,
den du liebst, sehr krank ist, und die Bedingungen der Heilung wären auch
Vivisektionen, auch Experimente an lebender Materie ... So ähnlich ist das.
Ich möchte Anna heilen. Jetzt weiß sie es auch. Es gibt da etwas zwischen uns,
das ihr nicht erlaubt, völlig mit mir zu sein. Der Körper ist gehorsam, die
Seele ist bereit. Jenes letzte Geheimnis aber, jenen Privatbesitz, gibt sie
nicht her. Das, was ihr am wichtigsten ist, eine Erinnerung, eine Sehnsucht,
jemand oder etwas. Was ist denn dieses Etwas, gemessen an der endlosen Vielfalt
des Lebens? Die Natur arbeitet mit unglaublicher Verschwendung, das Gehirn
besteht aus sechshundert Milliarden Zellen, was zählt denn da schon ein
heimliches Gefühl, eine unbewußte Leidenschaft, bei dieser Verschwendung an
Materie?
    Manchmal meine ich, es zählt nicht
viel. Und manchmal bin ich überzeugt, daß alles davon abhängt. Mit einer solch
gespannten Aufmerksamkeit kann man freilich nicht leben. Ich widme mich
wieder ganz dem, was ich für den einzigen Sinn des Lebens halte: dem Dienst an
den Menschen. Arbeit um jeden Preis. Ich seziere mich selbst, kenne kein
Erbarmen, lege mich auf den Operationstisch, es bleibt kein Geheimnis über, ich
untersuche alle meine Gefühle, alle meine Erinnerungen, und ich hoffe schon
beinahe: Es ist meine Schuld, ich habe mich geirrt, ich habe Anna nicht genug
geliebt, ich war nicht gut – vielleicht auch nicht schlau genug ... Denn sicher
ist auch das notwendig. Die Liebe ist kein Idyll! Mittlerweile werde ich krank.
Meine Kollegen untersuchen mich, und ich erfahre: die erste Krise des
Mannesalters. Sie hat auch einen Namen! Sie sagen: Angstzustände, arrhythmische
Herztätigkeit. Es ist keine große Sache. Manchmal artet es auch aus. Es gibt da
eine eigentümliche Übertragung, deren Mechanismus wir nicht kennen. Es ist
nichts als ein banges Gefühl, eine Beklemmung ... Es kommt ohne jeden Grund,
dann

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