Sandor Marai
haben dunklere,
stärkere und reinere Leidenschaften an Anna gebunden. Ich wollte sie
bedingungslos lieben, ohne Geheimnisse ... Und jetzt will ich sie gänzlich
begraben, mit all ihren Geheimnissen. Ich will von neckischen Bemerkungen
nichts wissen. Ich verachte so etwas.
Nun aber
sagte sie plötzlich: ›Erwarte mich zu Hause‹ und legt den Hörer auf.« Er hebt
mit beiden Händen den Kopf des Hundes, schiebt den Unterkiefer
mit dem Daumen herab und betrachtet das schöne, gesunde bernsteingelbe Gebiß.
»Das Sprechzimmer ist schon leer, alle Patienten sind fort. Ich gehe durch die
Wohnung. In diesen sechs Monaten habe ich allein gelebt. Auch das
Dienstmädchen habe ich entlassen ... Du weißt doch, ein altes Dienstmädchen ist
eine halbe Mitschuldige, es ist, als sei sie in irgendwelche Sünden
eingeweiht, die eure Strafbücher nicht erwähnen. Ich habe nur eine Bedienerin –
manchmal verbiete ich ihr, morgens das Schlafzimmer zu betreten, als hätte
eine fremde Person die Nacht dort verbracht. Es war aber nie jemand dort – seit
sechs Monaten nicht.
Diese sechs
Monate waren vielleicht nicht die ärgsten. Es war wie das Leben in einem
luftleeren Raum, dem luftleeren Raum der Erinnerungen. Die vorher vergangenen
Jahre waren ärger. Es ist keine Ruhe in mir, aber es tut mir auch nichts weh.
Ich befinde mich in einer Art euphorischem Wohlbefinden, wie die Schwerkranken
unmittelbar vor dem Tod. Diese Euphorie ist nun zu Ende. Soll ich fortgehen?
Meine Nerven fordern mich zur Flucht auf. Jetzt werden wir wieder durch die
Wohnung gehen, schließlich kann ich Anna doch nicht bitten, im Salon Platz zu
nehmen – und was geschieht dann? Werden wir Möbel aussuchen wie in den ersten
Zeiten? Mit ähnlichen Dingen beginnt eine Ehe, warum sollte sie nicht mit
solchen auch enden?
Ich bleibe
im dunklen Vorzimmer stehen, es kommt mir
vor, als hörte ich Alarmglocken. So erwarte ich Anna. Sie ist gekommen, sie läutet,
still und behutsam. Und dann ist wieder alles anders: viel einfacher, als ich
dachte! Ich weiß nicht, mit welchen Worten ich sie empfange, ob ich ihr die
Hand küsse oder ob wir einander nur die Hände geben. Wie ist Anna? Sie kommt
mir so bekannt vor ... Ihre Schuhe, ihre Handtasche, ihre Handschuhe aber sind
neu. Sie ist sehr müde. Wir gehen ins Sprechzimmer, als suchten wir beide die
neutrale Atmosphäre eines Arbeitsraums. Anna legt sich auf den Diwan, auf
diesen abgenützten Ordinationsdiwan, auf dem schon so viele Müde und Kranke
lagen. Ich koche Tee. Anna spielt nicht die Hausfrau, sie kennt keine falschen
Töne, blickt sich in der Wohnung nicht um und stellt nicht eifersüchtig fest,
daß dieses oder jenes nicht auf seinem alten Platz steht.
Sie liegt
mit geschlossenen Augen, dann trinkt sie etwas Tee. Ich setze mich neben sie,
halte ihre Hand – sie lächelt kraftlos, und wir schweigen. Ich betrachte ihr
vertrautes, so schmerzlich vertrautes blasses Gesicht. Jede Frage ist
überflüssig und hoffnungslos. Warum nur ist sie gekommen? Was kann sie mir denn
noch sagen wollen? Wäre es nicht besser, wenn ich sie bei der Verhandlung erst
wiedergesehen hätte und wir die letzten Augenblicke eines in seine Bestandteile
zusammenfallenden Zusammenlebens inmitten von Fremden erleben würden? Ich
schweige, denn jedes Wort würde die empfindlichste Stelle treffen, man kann nicht ›nebenhin‹ sprechen
wie in den Komödien.
So vergehen
Stunden. Gegen Mitternacht richtet sie sich auf, läßt aber meine Hand nicht
los, und fängt zu sprechen an. Sie will mir etwas sagen. Sie weiß es schon
lange, aber etwas zu wissen oder die letzte Gewißheit zu haben, das ist nicht
dasselbe. Man lebt, man weiß etwas, dieses Wissen durchzieht die Gedanken und
Träume, man denkt immer daran und denkt es doch nie mit Worten, bildhaft. Eines
Tages hat man die Gewißheit. Dann aber ist es schon zu spät. Es ist wie beim
Schachspiel, wenn man nur noch einen Schritt nach rechts oder links machen
kann. Einen einzigen Schritt – man könnte das Spiel ebensogut aufgeben. Das
Leben, dieser Feind, läßt diesen einzigen Schritt noch zu, ohne ›matt‹ zu
sagen. Man kann auf diese Weise noch lange, ohne Hoffnung, leben – mit der
Chance dieses einzigen Schrittes. Jetzt aber ist sie dieser Chance
überdrüssig. Mein Gott: überdrüssig! Das sind so Worte. Sie hat das Empfinden,
daß es genug sei. Ich höre ihr zu und betaste mit zwei Fingern selbstvergessen
ihren Puls.
Ihr Herz schlägt ruhig und
gleichmäßig. Sie ist nicht
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