Sandor Marai
vergeht es wieder. Du kannst es nicht kennen, du bist ja gesund, du hast
keine unterdrückten, trüben Regungen«, er sagt dies nebenher, rasch und
gleichgültig. Der Richter spürt, daß er jetzt sehr blaß ist; seine Stirne ist
in kalten Schweiß gebadet, und er nimmt sein Taschentuch hervor und trocknet
sie. »Es gibt auch eine Theorie, derzufolge dieses
eigentümliche Gefühl der Beklemmung charakteristisch für die in der
Zivilisation erstarrende Kultur sein soll. Ja, das ist alles Theorie. Die
Symptome aber sind unangenehm. Ein ekelhaftes Gefühl ... So erniedrigend, als
hätte man einen Fehler begangen!
So lebten wir vier Jahre. Dann erträgt
Anna es nicht mehr. Scheinbar kann man diese Spannung nicht unbegrenzt
ertragen. Im neunten Jahr unserer Ehe fassen wir den Entschluß, uns scheiden
zu lassen. Das Gerücht unserer Scheidung überrascht und betrübt unsere
Bekannten. Bisher galten wir als Musterehepaar. Man berief sich auf uns. Wir
haben einander nie betrogen. Wir zankten uns nie. Wir können nur eben nicht
bewältigen, was ein Ehepaar geheimhält. Das Privateigentum, du weißt es doch.
Anna verreist. Dann leben wir sechs Monate getrennt.«
17
»Wie waren
diese vier Jahre, dieser zweite Abschnitt unserer Ehe?« Er fragt es und starrt
ins Leere. Im Zimmer ist es kühl geworden, der Richter ist müde, friert und
reibt sich die Hände. »Ich versuche, diese ... Betrachtung von mir zu weisen.
Ganz tief unten lebt etwas in mir, was sich dagegen sträubt. Das Leben ist eine
Synthese. Man muß beieinanderbleiben, das Leben ertragen, die Beklemmung von
sich weisen. Es gibt auch den Willen. Ja, den gibt es doch. Man ist zu vielem
fähig. Es gibt vielleicht auch Genesung. Man kann oft nicht wissen, was zur
Heilung führt. Ich verachte dieses Schwindelgefühl – man muß Leib und Seele
bemeistern, man muß gläubig zum Verstand emporblicken. Dort oben ist es hell
... Es ist nur das Unterwasser, das mit Schatten, ekligen Kröten und
Wunderkäfern bevölkert ist, die in der Tiefe unterkriechen. Hinauf ins Licht!
– denke ich. Dort oben leuchtet Annas Antlitz. Sie soll ihr Geheimnis behalten.
Nun weiß ich schon, daß es nicht
anders geht, es gibt keine vollständige Hingabe, das Schicksal wird von
den verschiedensten Umständen und Ereignissen bestimmt – begnügen wir uns mit
dem, was uns zukommt. Mit den Brocken. Vielleicht kann ich mich damit
begnügen. Weißt du, wenn vom Ganzen die Rede ist, von allem oder nichts, dann
wird man bescheiden. Anna ist nicht ganz bei mir, wenn sie mit mir ist – ach,
es ist schwer, darüber zu sprechen, auch heute nacht ist es noch schwer. Eine
Zeitlang erstrebt auch sie noch die Lösung, sie wünscht sie sich – wie der gute
Schüler die Lösung der Fleißaufgabe. Anna ist gut, Anna ist rein, Anna liebt
mich. Schließlich kann man auch auf diese Art leben ... Es leben viele auf
ähnliche Weise. Wohin kämen wir denn, wenn jeder die vollkommene, die richtige,
die einzige Lösung haben wollte! Es gibt auch andere Dinge, es gibt die Geduld,
den Dienst am Menschen, die unendliche Welt ... Es ist nur eben, wie du siehst,
alles öde, geheimnisvoll öde, wenn unser Interesse nicht durch diese eigentümliche
Strömung belebt wird – durch diese seltsame Strömung zwischen zwei Menschen.
Diese Strömung bedeutet das Leben! Freilich, es gibt noch vieles, womit ein
Menschenleben hingeht. Der Mechanismus aber befindet sich im Leerlauf und hat
nichts zu mahlen. Ich könnte es vielleicht noch ertragen, doch ist es Anna, die
eines Tages aus den Kulissen flieht. Die Wohnung, in der wir gestern noch
gelebt haben, wird zur Dekoration, sie ist uns fremd geworden, und alle Worte
von gestern sind heute bedeutungslos.
So ziehen
vier Jahre dahin«, sagt er leise, »vier Jahre Warten. Vier Jahre Experimente,
ärztliche Maßnahmen, Gesellschaft, Einsamkeit und Betäubungsmittel. Vier Jahre
Hölle.«
»Entschuldige«,
sagt Christoph Kömüves ebenso leise, »warst du nie ... Ich meine ... glaubst
du nicht an etwas?«
»Diese Frage kann ich nicht beantworten«,
sagt der Arzt. Nun schweigen sie lange.
Die Tür öffnet sich vorsichtig.
Teddy, der nervöse Airedaleterrier, kommt ins Zimmer. Langsam, mit
gesträubtem Fell, zitternd und sehr demütig nähert er sich ihnen, als wäre er
seiner Sache nicht sicher. Wahrscheinlich ist er auch jetzt nervös, denkt
Christoph zerstreut. Mit gebieterischer Geste möchte er das Tier auf seinen
Platz verweisen, aber seine Hand ist bleischwer, die Absicht zu
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