Sanft wie der Abendwind
Armbanduhr. Erst kurz vor elf! Noch ungefähr sechs Stunden, bis es hell wurde und er herausfinden konnte, ob die Sturmschäden sie am Weiterfahren hindern würden. Noch sechs Stunden, in denen er neben Lily liegen musste – und dabei ihre Wärme spürte und ihren Duft wahrnahm. Es würde die reinste Hölle werden!
3. KAPITEL
Am Mittag des folgenden Tages erreichten Lily und Sebastian Stentonbridge, eine kleine Stadt, die am Ufer eines breiten Flusses lag. Hier gab es einige ruhige Wohngegenden mit von Ahornbäumen gesäumten Straßen und prächtigen alten Häusern. Lily war dennoch überrascht, wie großartig der Besitz Hugo Prestons war.
Das Grundstück umfasste mehrere Morgen Land am Flussufer, das beeindruckend große Haus im klassizistischen Stil des frühen neunzehnten Jahrhunderts lag auf einer kleinen Anhöhe, umgeben von gepflegten Rasenflächen und üppigen Blumenrabatten.
„Oh, ist das schön!“, rief Lily und sah sich begeistert um, als sie vors Haus fuhren.
„Das wussten Sie doch“, meinte Sebastian trocken. „Hugo hat Ihnen bestimmt Fotos geschickt, oder?“
„Die sind dem Anwesen nicht gerecht geworden. Das hier ist ja richtig hochherrschaftlich! Es muss Hugo ein Vermögen kosten, den Garten in Schuss zu halten. Ich wünschte, ich könnte all die Pflanzen liefern!“, fügte sie sehnsüchtig hinzu.
„Versuchen Sie doch bitte, sich Ihre Geldgier nicht so deutlich anmerken zu lassen, Miss Talbot. Denken Sie daran, warum Sie hier sind! Das Empfangskomitee wird jeden Moment erscheinen, und falls Ihre ersten Worte erkennen lassen, dass Sie nur an Hugos Vermögen interessiert sind, werde ich äußerst böse.“
Als sie morgens aufgewacht war, hatte sie sich ausgeruht und optimistisch gefühlt. Dummerweise hatte sie gehofft, sie und Sebastian hätten Waffenstillstand geschlossen und er würde auf seine hinterhältigen Anspielungen verzichten. Doch nur das Wetter war sonnig, seine Laune keineswegs, und sie hatte sich sogar noch verschlechtert.
Lily hatte nicht weiter darauf geachtet, weil sie sich nicht die Freude an der ansonsten angenehmen Fahrt durch die herrliche Landschaft verderben lassen wollte. Die letzte Attacke konnte sie jedoch nicht unwidersprochen durchgehen lassen.
„Ihre Bemerkung passt mir nicht, Sebastian. Sie ist völlig ungerechtfertigt.“
„Ach ja? Als ich heute Morgen aufgewacht bin, haben Sie das Geld auf der Kommode gezählt.“
„Das stimmt nicht! Ich habe den Autoschlüssel gesucht, weil ich mein Gepäck schon im Kofferraum verstauen wollte, um bereit zu sein, wenn Sie das Signal zum Aufbruch geben. Das habe ich Ihnen doch schon erklärt. Wenn Sie früher aufgestanden wären, statt den halben Vormittag im Bett zu vertrödeln, hätte ich es gar nicht nötig gehabt, Ihren kostbaren Besitz anzufassen.“
„Ich würde es nicht als ‚im Bett trödeln‘ bezeichnen, wenn man um acht Uhr aufsteht und um neun bereits unterwegs ist.“
„Ich war um sechs Uhr wach“, sagte Lily stolz.
„Und ich bin erst um vier Uhr eingeschlafen.“
„Machen Sie nicht mich für Ihre Schlaflosigkeit verantwortlich“, rief sie gereizt. Am liebsten hätte sie ihm mit der Handtasche auf den Kopf geschlagen.
„Nicht so laut! Und hören Sie auf, mit den Armen herumzufuchteln. Wir haben inzwischen Publikum bekommen.“
„Ist das Hugo?“, fragte Lily und konnte den Blick nicht von dem grauhaarigen Mann wenden, der die Stufen herunterkam, gefolgt von einem englischen Setter mit seidig glänzendem Fell.
„Ja“, bestätigte Sebastian. „Sind Sie enttäuscht, dass es nicht der Butler ist?“
„Oh nein“, erwiderte sie honigsüß. „Ich wünschte nur, der Hund wäre ein Rottweiler und Sie wären sein Mittagessen!“
„Wie freundlich, Miss Talbot. Endlich bekennen Sie Farbe.“
„Ach, rutschen Sie mir doch den Buckel runter, Sebastian!“ Bevor er es ihr mit gleicher Münze heimzahlen konnte, stieg Lily aus und ging zu dem Mann, der sie am Fuß der Freitreppe erwartete.
Hugo Preston war fast siebzig Jahre alt, sah aber keinen Tag älter als sechzig aus. Er war groß und hielt sich gerade, sein silbergraues Haar war beneidenswert dicht, und er hatte klare blaue Augen. Ja, er war ein sehr gut aussehender Mann.
„Wie schön, dass du da bist, Lily!“, sagte er herzlich. „Endlich lernen wir uns kennen!“
„Ja“, erwiderte sie nur, von widerstreitenden Gefühlen erfüllt. Wie begrüßte man einen Mann, mit dem man blutsverwandt war, der aber – aus Gründen, die er noch
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