Sanft wie der Abendwind
Er küsste seine Mutter auf die Wange. „Um wie viel Uhr gibt es Abendessen?“
„Um halb acht wie üblich. Komm doch etwas früher, wenn du kannst.“
„Wird Natalie auch hier sein?“
„Natürlich. Sie kann es kaum erwarten, Lily kennenzulernen.“ Cynthia verabschiedete sich von ihrem Sohn und Penny, dann wandte sie sich wieder Lily zu. „Natalie besucht Sommerkurse am hiesigen College und hat heute ein Seminar, das sie auf keinen Fall verpassen darf. Sie hat mich gebeten, dir zu sagen, wie leid es ihr tut, zur Begrüßung nicht hier zu sein, und dass sie um drei Uhr nach Hause kommt.“
„Ich freue mich darauf, sie kennenzulernen. Was studiert sie?“
„Sozialwissenschaften. Sie möchte sich später mit Kindern beschäftigen. Das kann sie dir aber alles selbst erzählen. Dein Vater und ich möchten gern mehr über dich wissen. Du bist Gartenarchitektin, stimmt’s?“
Lily lächelte bescheiden. „Nein, Floristin. Bis vor Kurzem war ich Teilhaberin eines Blumengeschäfts.“
„Wahrscheinlich hast du die Liebe zu Blumen von deinem Vater geerbt. Ich glaube, wenn er nicht Jurist geworden wäre, hätte er sich als Gärtner den Lebensunterhalt verdient.“
Cynthia bat zu Tisch und nahm, nachdem sie sich gesetzt hatten, den Gesprächsfaden wieder auf. „Du bist nicht mehr Geschäftsinhaberin, wenn ich das richtig verstanden habe?“
„Mein Partner und ich haben die Verbindung gelöst.“ Lily wählte die Worte sorgfältig, denn trotz des herzlichen Empfangs waren Hugo und Cynthia Fremde für sie und brauchten nicht gleich zu erfahren, in welchen Schwierigkeiten sie steckte. Ihr Partner Jonathan Speirs, ein unscheinbarer, schüchterner Mann, der sich um die Finanzen gekümmert hatte, war wegen Betrugs, Geldwäsche und Verbindungen zum organisierten Verbrechen verhaftet worden. Und sie, Lily, hatte man der „Verabredung zu kriminellen Handlungen“ verdächtigt.
Inzwischen war die Polizei von ihrer Unschuld überzeugt, sie war nun jedoch eine wichtige Zeugin im Prozess gegen Jonathan Speirs, und ihre Anwältin hatte ihr empfohlen, wenn möglich Vancouver zu verlassen.
Sebastian wäre begeistert, wenn er das alles wüsste, dachte Lily bedrückt.
„Heißt das, du arbeitest jetzt als Angestellte, Lily?“, wollte Cynthia wissen.
„Nein. Ich hatte noch einige Aufträge für Hochzeiten im Mai und Juni zu erledigen, seitdem kann ich frei über meine Zeit verfügen.“
„Du musst also nicht gleich wieder nach Vancouver zurück?“
„Cynthia, setz Lily nicht so unter Druck“, mischte Hugo sich ein und goss Weißwein in Kristallgläser. „Wir wollen ihr keine langfristigen Entscheidungen abverlangen, bevor sie sich an uns gewöhnt hat.“
„Ich setze sie nicht unter Druck, ich will ihr nur zu verstehen geben, dass sie gern so lange bleiben darf, wie sie möchte. Sie gehört jetzt zur Familie, und hier ist ihr Zuhause. Das Haus ist groß genug für uns alle.“
„Wohnt Sebastian auch hier?“, erkundigte Lily sich beiläufig.
„Wie man’s nimmt: Er hat ein Apartment über den ehemaligen Stallungen am anderen Ende des Grundstücks. Manchmal sehen wir ihn tagelang nicht.“
Das beruhigte Lily. Sie hatte keine Lust, jedes Mal auf Sebastian zu stoßen, wenn sie ihr Zimmer verließ. Schon nach dem ersten Gang, einer geeisten Kressesuppe, war sie plötzlich so müde, dass sie die gegrillten Garnelen dankend ablehnte.
Cynthia zeigte Verständnis und begleitete sie in ihr Zimmer. „Sag mir, wenn du noch etwas brauchst, Lily.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Das Zimmer ist wirklich luxuriös.“
„Danke. Falls du noch etwas gebügelt haben möchtest, bevor du dich zum Abendessen umziehst, lass es mich wissen.“
Die Familie zog sich also zum Abendessen um! Für den subtilen Hinweis war Lily dankbar, und zum Glück hatte sie einige elegante Kleider eingepackt. Sie verabschiedete sich von Cynthia und inspizierte dann ihre Umgebung.
Das Eckzimmer hatte vier hohe Fenster: zwei mit Blick auf den Garten und den Fluss, aus den anderen sah man einen Swimmingpool und in einiger Entfernung die Giebel eines kleineren Gebäudes hinter Bäumen.
Die altrosa Taftvorhänge harmonierten mit der seidigen Textiltapete, der bequeme Sessel war mit hellrosa Plüsch bezogen. Auf dem kleinen Tisch daneben stand eine silberne Schale mit Rosen, wie auch auf dem zierlichen Schreibtisch aus dem frühen achtzehnten Jahrhundert. Der cremefarbene Teppich war dick und weich, das Bett ein antikes Stück mit vier
Weitere Kostenlose Bücher