Sanft wie der Abendwind
an Sebastian, aber im Spätsommer hatte sie so viele Aufträge zu erledigen, dass sie ihn aus der Erinnerung verdrängen konnte. Danach freute sie sich schon auf das Erntedankfest Mitte Oktober, denn Natalie hatte zugesagt, dieses Wochenende in Vancouver zu verbringen.
Am ersten Freitag im Oktober kam Lily spät nach Hause, weil sie nach der Arbeit noch hübsche Bettwäsche fürs Gästezimmer besorgt hatte. Als sie die Tür des Apartments öffnete, sah sie als Erstes das rote Licht am Anrufbeantworter blinken. Sofort schaltete sie auf Wiedergabe.
Hugos Stimme klang so bedrückt und leise, dass Lily die Nachricht zuerst nicht verstand und sie noch einmal abspielen musste.
„Lily, hier ist dein … hier Hugo. Wir haben leider schlechte Neuigkeiten. Bitte ruf mich umgehend zu Hause an.“
Sebastian ist etwas passiert, dachte sie entsetzt und wählte mit bebenden Händen Hugos Nummer. Am anderen Ende hob nicht Hugo ab, sondern Sebastian meldete sich.
Sie hatte sich manchmal ausgemalt, was sie sagen würde, wenn oder falls sie jemals wieder mit ihm sprechen würde. Sie hatte die Worte sogar geprobt: beiläufige und spöttische Bemerkungen, die ihm beweisen sollten, wie wenig er ihr bedeutete. Jetzt aber sagte sie das Erste, was ihr in den Sinn kam.
„Sebastian! Gott sei Dank, du bist in Ordnung. Hier Lily. Ich habe gerade Hugos Nachricht bekommen. Was ist passiert? Hat es einen Unfall gegeben?“
„Nein. Es geht um Natalie.“ Er klang völlig verzweifelt. „Sie ist sehr krank.“
„Krank? Ich habe doch erst vor Kurzem mit ihr telefoniert, und da ging es ihr glänzend. Da muss ein Irrtum vorliegen.“
„Der Irrtum war die Reise nach Indien“, erwiderte Sebastian erbittert. „Wenn Natalie doch nur auf mich gehört hätte und zu Hause geblieben wäre.“
„Was hat Indien damit zu tun? Sie ist vor zwei Wochen zurückgekommen, gesund und munter, und wollte mich nächste Woche besuchen.“ Ihr war nicht bewusst, wie panisch sie klang.
„Reiß dich zusammen, Lily! Wir haben genug am Hals, auch ohne dass du zusammenbrichst. Natalie hat sich in Bombay mit Streptokokken infiziert. Es sind unerwartete Komplikationen aufgetreten, und sie liegt jetzt hier im Krankenhaus. Die Ärzte sind sehr besorgt, weil sie auf die Therapie nicht anspricht. Es sieht leider sehr ernst aus. Wenn sich ihr Zustand nicht bald bessert, könnte sie sterben.“
Lily wurden die Knie weich, und sie ließ sich in den nächsten Sessel fallen. „Sag das nicht! Du darfst nicht einmal daran denken.“
„Tut mir leid, Lily, ich weiß, was für ein Schock das ist. Wir sind alle wie benommen und beten um ein Wunder.“
„Ich komme zu euch, so schnell es geht.“
„Warum? Du kannst nichts tun.“
„Sie ist meine Schwester, und ich möchte bei ihr sein. Versuch erst gar nicht, es mir auszureden, denn das schaffst du nicht, Sebastian!“
„Gib mir Bescheid, wann du hier ankommst, und ich hole dich am Flughafen ab.“ Er klang so bedrückt, dass ihr Tränen in die Augen stiegen.
Bei herrlichem Wetter fuhren Lily und Sebastian nach Stentonbridge. Rot und golden leuchtete das Herbstlaub vor dem Hintergrund des klaren blauen Himmels, in den Bauerngärten blühten Chrysanthemen und Astern in voller Pracht.
Vor lauter Sorge hatte Lily kaum noch geschlafen. Sie konnte an nichts anderes als an Natalies Zustand denken und hatte sich nur manchmal flüchtig gefragt, wie es sein würde, Sebastian wieder zu begegnen. Bisher hatten sie sich entweder gestritten, sobald sie zusammen waren – oder miteinander geschlafen. Als sie ihn dann im Flughafen sah, brach sie in Tränen aus und schmiegte sich in seine Arme. Ohne zu sprechen, hielten sie einander bekümmert fest.
Erst auf der Fahrt erkundigte Lily sich schließlich nach Natalies Befinden und hörte von Sebastian, dass noch keine Änderung eingetreten sei.
Sie unterdrückte ein Schluchzen. „Wie konnte das überhaupt passieren?“
„Natalie wurde schon in Bombay mit Antibiotika behandelt und schien sich zunächst zu erholen. In seltenen Fällen kann es jedoch zu verschiedenen Komplikationen kommen. Bei ihr sind die Nieren in Mitleidenschaft gezogen.“
Er sah so verzweifelt aus, dass Lily ihm tröstend die Hand drückte.
„Ich bin froh, dass du hier bist“, gestand er schroff. „Hugo braucht dich. Und ich auch.“
Warum muss ausgerechnet eine Tragödie uns wieder zusammenführen? dachte Lily traurig.
„Natalies Krankheit ist selten“, erklärte Sebastian nach einer kurzen Pause
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