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Sankya

Sankya

Titel: Sankya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zakhar Prilepin
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Bürgerkrieg gekämpft und auch Auszeichnungen erhalten. Aus dem Bürgerkrieg waren allerdings keine Aufnahmen erhalten. Und die Auszeichnungen waren verloren gegangen.
    Und hier ist Sascha selbst, vierzehnjährig, rosig, hellhäutig, die Haare wie zur Seite geleckt. Als er aus dem Dorf wegfuhr, war er, wie alle Dorfjungen, strohblond, in der Stadt verlor er die helle, seltene Färbung und wurde dunkelblond.
    Sascha war mittlerweile der Einzige, der noch etwas über das Leben dieser Menschen wusste, die auf den Schwarzweißfotos abgebildet waren, zumindest war er ein Zeuge ihrer Existenz. Wenn die Großmutter stirbt, kann keiner mehr irgendwem erklären, wer hier abgebildet ist, welche Leute das sind – Stille. Ja, es wird auch niemand fragen, das braucht keiner. Die neuen Hausherren werden den Fotoaltar in das undurchdringliche Gestrüpp auf der anderen Straßenseite schmeißen, die Gesichter auf den Bildern werden verwaschen, und das war’s dann. Als wäre es nie gewesen.
    Schon jetzt wusste Sascha nicht mehr, wer all die Menschen auf den vielen Fotos waren – vielleicht irgendwelche Verwandte der Großmutter, des Großvaters, vielleicht Nachbarn, mit denen sie befreundet gewesen waren, sonst noch wer. Die ganze Verwandtschaft ist weggestorben und die Freunde sind gestorben, es gab niemanden mehr, der sich erinnern konnte, wie die Großeltern in den Nachkriegsjahren eigentlich waren, ganz zu schweigen von der Zeit vor dem Krieg. Es hatte ja auch eine Hochzeit stattgefunden – die jungen Leute küssten sich scheu und die Gäste lärmten und tranken und alle lächelten, oder fast alle, vielleicht hat jemand missmutig in der Ecke gesessen und sich leise betrunken, auf jeder Hochzeit gibt es solche, trotzdem waren alle glücklich und lärmten … aber vermutlich ist kein Zeuge dieser Hochzeit mehr übrig geblieben.
    Sascha erinnerte sich plötzlich, wie dem Großvater einmal herausgerutscht war, dass er mit der Großmutter in zweiter Ehe verheiratet sei. Die erste Frau hatte er am Tag nach der Hochzeit verlassen. Was sie eigentlich gemacht hatte, sagte der Großvater nicht. Angeekelt verlor er über seine erste Hochzeit ein paar Worte, die Sascha längst vergessen hatte, das war alles.
    Dass der Großvater zwei Mal verheiratet gewesen war, beeindruckte Sascha sogar mehr als die furchtbaren Jahre, die der Großvater in Gefangenschaft verbracht hatte. Was war das für eine Ehefrau, was war das für ein Mädchen? Was hat sie getan? Hat der Großvater sie etwa mit einem anderen erwischt? Oder hat sie sich betrunken und den Großvater beschimpft? »Vielleicht hat sie das Tor mit Pech beschmiert?«, dachte Sascha, und vergaß dabei, dass im Dorf kein Haus hinter dem Tor versteckt war. Du machst einen Schritt von der Straße weg – und da ist gleich die Tür, die oft nicht einmal verschlossen ist. Und Hunde hielt auch niemand.
    »Das Tor … mit Pech …«, äffte Sascha sich selbst nach. »Zu viele Bücher gelesen …«
    Niemand weiß, wie das alles gewesen war. Aber all das war gewesen.
    Wie kommt das, ha? Wohin sind alle verschwunden?
    Hätte es einen Wert, zu wissen, wie die Großeltern ihr Leben gelebt haben? Oder war es für gar nichts nütze?
    Sascha ging leise zum Großvater hin.
    Die Türrahmen in der Hütte waren niedrig, und Sascha verbeugte sich unwillkürlich vor dem Großvater, der aber nichts sah – er lag mit geschlossenen Augen da. Sascha hörte das heisere, bebende Atmen des Großvaters und blickte einige Momente lang auf seine blasse Stirn mit der dünnen, schwärzlichen Vene.
    Der Großvater zuckte mit den tränenden Augen, man konnte die Pupillen unter den Lidern nicht ausmachen.
    »Sieht er? Sieht er nicht? Soll ich was sagen?«
    »Sankya«, sagte der Großvater leise. »Bist aufgestanden. Hättest noch weiterschlafen …«
    Sascha schwieg und sah den Großvater ohne zu blinzeln an. Der Großvater atmete.
    Sascha nahm den Hocker und stellte ihn neben Großvaters Bett, vielleicht tat er das auch lauter, als es möglich gewesen wäre – schon die Bewegung, der Lärm verwischten gleichsam den Eindruck der schwermütigen Schmerzhaftigkeit dessen, was hier vor sich ging.
    Der Großvater schielte kaum merklich auf den daneben sitzenden Sascha – das Lid zuckte, ein bleicher Fleck der Pupille bewegte sich, und das Lid zuckte von Neuem, drückte eine kleine Träne hervor, die sich sofort in einer Falte verlor.
    »Fährst du bald? Bleib doch noch … Bleib, bis ich sterbe …
Ich sterbe bald …

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