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Sansibar Oder Der Letzte Grund

Sansibar Oder Der Letzte Grund

Titel: Sansibar Oder Der Letzte Grund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Andersch
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der Säule. Helander blieb erschrocken stehen. Wer ist da noch? fragte er mißtrauisch.
    Keine Sorge, antwortete Gregor. Noch jemand, den Knudsen mitnehmen muß. Ich habe sie unten am Hafen gefunden. Die Anderen sind hinter ihr her.
    Aber der Pfarrer hätte sich nicht von der Stelle bewegt, wenn nicht Judith auf ihn zugekommen wäre.
    Herr Pfarrer, sagte sie, ich bin Jüdin. Dieser Herr hat mir
    seinen Schutz angeboten und mich hierher gebracht. Aber ich
    gehe sofort, wenn Sie nicht wünschen, daß ich bleibe.
    Erstaunlich, dachte Helander, was sich an einem Tage alles
    ereignen kann. Erstaunlich auch, was dieser junge, fahnen- flüchtige Kommunist alles bewirkt.
    Haben Sie es tatsächlich fertiggebracht, Knudsen umzustimmen? fragte Helander.
    Nein, sagte Gregor wahrheitsgemäß, aber er ist geblieben und er übernimmt die Figur heute nacht auf der Lotseninsel.
    Und er wird die junge Dame mitnehmen?
    Er hat bis jetzt noch keine Ahnung von ihrer Existenz, sagte Gregor.
    Nun, dann machen Sie sich noch nicht zu viele Hoffnungen, Kind, sagte Helander, zu Judith gewendet. Eine Jüdin, dachte er, und: ob sie getauft ist? Es ist gleichgültig, gab er sich zur Antwort, wer von den Anderen gejagt wird, ist getauft. Voller Haß dachte er einen Augenblick daran, daß es Amtsbrüder gab, die ihren jüdischen Gemeindemitgliedern nahelegten, die Taufe rückgängig zu machen - die Schande der Kirche war unermeßlich.
    Junge Dame, dachte Gregor, und dann die Anrede ›Kind‹ und ihr Getue mit ›Aber ich gehe sofort, wenn Sie nicht wünschen, daß ich bleibe‹, - was für eine Sprache sie miteinander reden, die Sprache ihrer Kreise, sie haben sofort gewußt, daß sie zusammengehören, sie haben sich am Tonfall erkannt. Gregor, des Pfarrers Arm noch immer auf seiner Schulter festhaltend, beobachtete, wie Judith sich mit dem Pfarrer unterhielt, angenehm ehrerbietig, aber doch gesellschaftlich zu ihm gehörig, fast im Plauderton, es sähe entzückend aus, wenn es nicht so blöd wäre, ja, entzückend blöd sieht es aus, dachte Gregor, und ich gehöre jedenfalls nicht dazu, nicht zu diesem tadellosen Edelmann Gottes und nicht zu dieser süßen Bourgeoisen, nicht zu ihrem tragischen Geplauder über den Selbstmord von ›Mama‹, nicht zu dieser ganzen ›Haltung vor der Guillotine‹, es fehlt nur noch, daß Tee gereicht wird, und erbittert dachte er: Himmeldonnerwetter, warum bin ich eigentlich hier, warum habe ich mich nicht gedrückt, warum mache ich die Dreckarbeit für sie und warum habe ich Knudsen gezwungen, die Dreckarbeit für sie zu machen? Aber dann fiel sein Blick auf den lesenden Mönch, auf den Genossen Klosterschüler, und er wußte wieder, warum er hier war, auch der Genosse Klosterschüler gehörte nicht zu ihnen, er gehörte zu Gregor, er gehörte zu denen, die in den Texten lasen, aufstanden und fortgingen, er gehörte in den Club derer, die sich verschworen hatten, niemandem mehr zu gehören. Dann spürte er an der immer schwerer werdenden Last auf seinen Schultern, daß der Pfarrer sich kaum noch aufrechthalten konnte. Er führte ihn zu den Stufen und half ihm vorsichtig, sich hinzusetzen.
    Selbstmord, dachte Helander, von dem, was das Mädchen ihm erzählt hatte, überwältigt, Selbstmord hieß also eine mögliche Antwort auf eine Frage, die nicht zu beantworten war. Diese alte Dame in Hamburg hatte sie gewußt, während sie ihm, Helander, noch nicht eingefallen war. Oder war sie ihm doch eingefallen, hatte er vielleicht die ganze Zeit schon mit dem Wort Selbstmord gespielt, ohne es auszusprechen? War nicht diese ganze Angelegenheit mit der Figur einfach eine Art Selbstmord, ein eigensinniger Gang in der Tod? Wäre es nicht das Einfachste, Hand an sich zu legen, wenn die Figur entfernt war, wenn der ›Lesende Klosterschüler‹ seinen Gang zum Propst von Skillinge angetreten hatte? Aber als er diesen Gedanken gedacht hatte, überkam den Pfarrer wieder das Feurige und Wütende seiner Natur, seine Neigung zum Jähzorn. Gott hat recht, mir diese Antwort zu verbieten, dachte er, so leicht soll man es dem Bösen nicht machen. Ich werde es dem Bösen so schwer machen wie möglich, indem ich dableibe.
    Ich werde Ihnen wenig helfen können, sagte er zu Gregor, indem er einen Schraubenzieher aus der Innentasche seines geistlichen Gewandes holte.
    Das macht nichts, sagte Gregor, sie kann mir ja helfen. Er deutete auf Judith. Zum erstenmal, seitdem der Pfarrer in die Kirche gekommen war, sahen Gregor und Judith sich

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