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Sansibar Oder Der Letzte Grund

Sansibar Oder Der Letzte Grund

Titel: Sansibar Oder Der Letzte Grund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Andersch
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weil sie mich geliebt hat, dachte er, und er fühlte wieder seine Abneigung gegen das junge Mädchen vor ihm, als er sich an Franziska erinnerte. Als er aus den Manövern am Schwarzen Meer zurückgekehrt war, hatte er Franziska in der Lenin-Akademie nicht mehr vorgefunden. Die Genossen Lehrer hatten nur die Schultern gezuckt, als er, zuerst ganz harmlos, nach Tagen immer erregter, gefragt hatte, wo sie sei. Versetzt, hatten sie zuerst gesagt. Franziska war zusammen mit ihm aus Berlin auf die Schule nach Moskau gekommen; sie war wunderbar geschult, und sie hatten zusammen dialektischen Materialismus gebüffelt. Und es war wunderbar gewesen, mit ihr die Liebe zu machen, ihr schlanker Körper hatte eine befreiende, souveräne, kühne Zärtlichkeit besessen, ihr Fleisch war gesalbt gewesen vom Duft des Bewußtseins. Gregor war außer sich geraten, als er auch nach Tagen nichts von ihr hörte. Schließlich hatte ihn einer der Lehrer beiseite genommen und gesagt: Tschistka, Sie verstehen, Genosse Grigorij. Nein, er hatte es nicht verstanden, es war ausgeschlossen, daß Franziska gegen den Staat der Arbeiter und Bauern gearbeitet hatte, er war empört aufgeflammt, aber der Lehrer war sofort hochoffiziell geworden, und damals hatte zum erstenmal sein, Gregors Gehirn blitzartig reagiert: er hatte geschwiegen. Von da an hatte er sich gänzlich in sein Tarasovka-Erlebnis eingepuppt: die Erinnerung an den goldenen Schild über dem Schwarzen Meer hatte ihm geholfen, den Kurs mechanisch zu beenden. Er hatte schon in Moskau gelernt, was er dann in Deutschland am meisten brauchte: auf der Hut sein. Franziska war offenbar nicht auf der Hut gewesen, sagte er sich, sicherlich hatte sie geglaubt, das Genie ihrer freien Liebe in die Perspektiven der Lehre projizieren zu können, aber das war ihr Fehler gewesen: sie war nicht kalt gewesen, sie hatte ihre Liebe nicht ausgelöscht. Es war empörend, daß er Franziska nicht hatte helfen können, während er diese Unbekannte retten sollte. Eine junge Frau voll strahlender Intelligenz war untergegangen, und statt ihrer bot ihm der Zufall ein verwöhntes, törichtes Geschöpf an, ein junges bourgeoises Ding, das, halb betäubt von dem, was mit ihm geschehen war, nichts anderes einzusetzen wußte als einen kindlichen Verführungsversuch, eine Verlockung aus Haaren und einem schönen Mund, der die Herausforderung seiner Frage so töricht wie sicher hervorbrachte.
    O ja, sagte Gregor und vergaß alle Kontrollen, ich würde Ihnen auch helfen, wenn es diese Figur nicht gäbe.
    Er trat ganz dicht an sie heran und legte seinen linken Arm auf ihre Schulter. Nun zerfiel die Einheit ihres Gesichts, noch immer konnte er ihre Augen nicht erkennen, aber dafür spürte er den Duft ihrer Haut, ihre Nase glitt vorbei, ihre Wangen, und schließlich blieb nur noch ihr Mund, ihr Mund, immer noch schwarz aber schön geschwungen schwankte er heran und löste sich auf, fiel herab, als er den Kopf erhob, weil er das Knarren der Tür hörte, die sich öffnete. Als der Schein der Taschenlampe hereinfiel, war er bereits zwei Schritte von Judith zurückgetreten. Lampe aus! rief er flüsternd, und das Licht erlosch gehorsam. Der Pfarrer, dachte Gregor erleichtert, denn einen Moment lang hatte er gedacht, es könne auch der Feind sein, und er hörte, daß der Pfarrer an der Tür stehengeblieben war und schwer atmete. Jetzt hörte er ihn sagen: Kommen Sie hierher!
    In diesem Augenblick begannen die Glocken von Sankt Georgen die zwölfte Stunde zu schlagen. Ihr grelles Geschmetter brach wie Schrecken in die Kirche ein und brachte jede Bewegung zum Stillstand. Erst als sie geendet hatten, ging Gregor auf die Tür zu, die der Pfarrer hinter sich geschlossen hatte. Noch keuchend von der Anstrengung, hatte Helander sich an sie gelehnt.
    Ich muß mich auf Sie stützen, sagte er zu Gregor, das Gehen fällt mir heute etwas schwer.
    Die Decke, die er unter dem Arm trug, entglitt ihm. Gregor hob sie auf. Dann legte er sich den Arm des Pfarrers um die Schultern. Was ist los mit Ihnen? fragte er. Was haben Sie?
    Mein Bein, sagte Helander, die Prothese sitzt heute nicht richtig. Ehe sie sich bewegten, sagte der Pfarrer: Komisch, ich war noch nie bei völliger Dunkelheit in der Kirche. Immer war es entweder Tag oder es brannte Licht. Er blickte zu dem matten Bleiglanz der Fenster empor.
    Nachdem sie ein paar Schritte gegangen waren, wurde er Judiths gewahr. Ihr heller Mantel phosphoreszierte fast, unbeweglich neben dem lesenden Mönch an

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