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Sansibar Oder Der Letzte Grund

Sansibar Oder Der Letzte Grund

Titel: Sansibar Oder Der Letzte Grund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Andersch
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Er dachte nicht mehr an seinen Vater, er hatte vergessen, daß in Rerik nichts los war, und am allerwenigsten fiel ihm sein Traum von Sansibar ein. Alle seine Gedanken kreisten um die Chance, und ob es ihm gelingen würde, sie auszunützen.
    Judith - Gregor
    Es war halb eins, als sie das Gebäude der Genossenschaftsmolkerei erreichten. Gregor hatte einen Umweg gefunden, der sie erst außerhalb der Stadt auf die Doberaner Chaussee führte, wiederum waren sie keinem Menschen begegnet, und die Chaussee war dunkel und leer, ein einziges Mal war ihnen ein Lastauto begegnet, aber sie hatten sich hinter Gebüsch und Bäumen versteckt, ehe es heran war.
    Außerhalb der Stadt war die Nacht weder ganz dunkel noch besonders hell. Ein kranker Mond hing bereits ziemlich tief im Westen, gelbsuchtgelb und sichelförmig, aber die Sichelrundung nicht sehr schmal, - wenn er untergegangen war, würden die dunkelsten Stunden kommen, was ihre Flucht begünstigte. Es gab außerdem Wolkenfetzen und Sterne; das Mond- und Sternenlicht flackerte von den Windstößen, die an Stärke zugenommen hatten - oder vielleicht waren sie im Freien nur stärker zu spüren, dachte Gregor—, und manchmal schlugen ihnen von Westen her ein paar Regentropfen schwer in die Gesichter. Aber der Wind war zu stark, als daß es zum Dauerregen gekommen wäre, er fegte die Wolken in Schüben vor sich her. Gregor überlegte, daß er sich morgen einen Mantel kaufen müsse - er hatte schon zu lange gewartet damit, heute nacht würde er ihm fehlen. Das Molkereigebäude lag stumm und grau am Straßenrand. Sie fanden den Fußweg, von dem Knudsen gesprochen hatte, sofort; er bog hinter dem Haus von der Straße nach rechts ab. Gregor atmete eine Sekunde lang auf, als sie die mit kleinen dunklen Steinen gepflasterte Straße verließen, sie hatten die erste Etappe hinter sich, sie verschwanden aus dem Bezirk der Häuser, Straßen und Lastautos. Er blieb stehen und hob das Bündel mit der Figur auf die rechte Schulter, ehe er weiterging. Auf dem ganzen Weg hatten sie nur das Nötigste miteinander gesprochen, nach der Szene in der Kirche darf es jetzt nur das Nötigste geben, dachte Gregor, ich will mich auf nichts mehr einlassen, in ein oder zwei Stunden wird die Nacht dieses Gesicht verweht haben, schwarze Haare und ein geschwungener Mund in die Unendlichkeit der Nacht, der See und der Zeit verweht, blöd von mir, daß ich mich beinahe auf einen Kuß eingelassen hätte, ich habe mich damit eines Vorteils beraubt, dachte er, ich bin nicht mehr so überlegen wie vorher, ich habe nicht mehr die Überlegenheit des Abstands. Ärgerlich fühlte er, daß er befangen war.
    Zu beiden Seiten des Weges wuchsen Hecken, dichtes, noch belaubtes Gestrüpp, das den Wind abhielt, es war fast warm in der umlaubten Gasse aus Windstille. Hinter den Hecken dünstete Weideland, schon vom Vieh verlassen, aber an einem Gatter, an dem sie vorbeikamen, standen ein paar Rinder dichtgedrängt, die Rücken gegen den Wind gestellt, leises Schnauben und gefleckte Felle in einer kalten Spätherbstnacht, Wintervieh in der trostlosen Weite, an deren Horizont manchmal ein Gehölz oder ein Strohdach zwischen Erde und Himmel hinkroch, schwarzes Reptil, niedergehalten von der Faust des Firmaments aus Nacht, die riesig über der Ebene lag. Bin ich jemals schon so in der Nacht auf dem Land gegangen? überlegte Judith, sommers vielleicht manchmal, vor Jahren, als wir noch nach Kämpen fuhren oder nach Sils Maria. Aber das waren nur Spaziergänge in freundlichen, von Lichtern durchglitzerten Nächten gewesen, in Gegenden, die so hübsch angelegt waren, daß sie ihre Landhäuser und Grandhotels sogar manchmal verbargen, in Nächten wie jener, die so himmlisch gewesen war, daß Papa plötzlich stehengeblieben war und seinen geliebten Goethe rezitiert hatte: Nacht ist schon hereingesunken, schließt sich heilig Stern an Stern, große Lichter, kleine Funken, glitzern nah und glänzen fern, sie war ein sehr junges Mädchen damals gewesen, so zwischen zehn und zwölf, und der Reimtakt hatte sich in ihr Kindergemüt eingelassen, so daß sie Papas Rezitativ nie vergessen hatte, Glitzern hier, im See sich spiegelnd, erinnerte sie sich, Glänzen droben klarer Nacht, aber hier war alles ganz anders, Tiefsten Ruhens Glück besiegelnd, herrscht des Mondes volle Pracht, das gab es hier nicht, sondern gefleckte Felle, Kälte und Trostlosigkeit, Goethe und Papa befanden sich irgendwo, hier waren sie undenkbar, denkbar war hier nur

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