Sansibar Oder Der Letzte Grund
Judith.
Das sieht man, erwiderte Gregor.
So, wie man es sieht, daß ich Geld habe?
Ja. Sie sehen aus wie ein verwöhntes junges Mädchen aus reichem jüdischem Haus.
Sie hatten sich inzwischen so an die Finsternis gewöhnt, daß sie einander, wenn auch undeutlich, sehen konnten, schattenhafte Figuren, mit Kohle auf einen Hintergrund aus grauem Licht gezeichnet. Der junge Mönch hockte zwischen ihnen, unbewegt. Ob ich verwöhnt bin, weiß ich nicht, sagte Judith. Eigentlich bin ich immer ziemlich streng gehalten worden.
Man hat alles von Ihnen ferngehalten, das wollen Sie wohl sagen, antwortete Gregor. Wieder überkam ihn Gereiztheit. Und nun haben Sie also das erlebt, was man in Ihren Kreisen einen Schicksalsschlag nennt, was? fragte er herausfordernd.
Ja. Und? sagte Judith hilflos. Freilich…
Die feine Villa und der Schicksalsschlag, sagte Gregor brutal, in einem Ausbruch von Hohn. Und dann die Abreise der jungen Dame ms Ausland, fuhr er fort, hübsche Hotels in Stockholm oder London, Kostenpunkt Nebensache, mit der diskret gehegten Erinnerung an einen Tod voll Stil und Geschmack im Hintergrund.
Sie fühlte sich nicht beleidigt. Fast unbewußt gewahrte sie das Interesse an ihr, das im Ton seiner höhnischen Kritik lag.
Ich bin gemein, dachte er, ich bin hundsgemein. In einem matten Versuch, die Worte, die geschehen waren, wieder auszulöschen, sagte er: Ich meine doch nur, Sie sollten den Tod Ihrer Mutter nicht nur als einen Unfall ansehen…
Was ist er denn? hörte er sie fragen.
Er schwieg einige Zeit und dachte nach. Es ist gar nicht so leicht, darauf zu antworten, überlegte er. Früher hätte ich etwas von Faschismus gesagt, von Geschichte und Terror.
Er ist eine kleine Ziffer im Plan des Bösen, sagte er schließlich. Genauso, dachte er im gleichen Augenblick, würde der Pfarrer seine Antwort formuliert haben.
Ach, sagte Judith, ihre Fassungslosigkeit hinter Kühle versteckend, das Böse kann ich mir nicht vorstellen. Einen Unfall kann ich mir vorstellen, aber das Böse…?
Sie stand auf, weil es ihr kalt geworden war. Kalt, das Böse, und dieser Fremde, zu dem sie manchmal Vertrauen spürte, der sie manchmal abstieß und der nun begonnen hatte, sie zu interessieren. Sie versuchte, die dunkle Luft der Kirche, die zwischen ihrem Gesicht und dem seinen lag, mit ihren Blikken zu durchdringen, aber sie konnte nicht mehr entziffern als ein mageres, helles, unauffälliges Gesicht, ein Gesicht, das einem Automonteur gehören konnte oder einem Laboranten oder einem Mann, der Manuskripte entzifferte, deren Texte ihn nicht interessierten, oder einem Flieger. Etwas sehr Erfahrenes und Altes lag in diesem jungen Gesicht, und zwischen Augen und Mund hatte sich ein nüchtern hingenommener, offenbar nicht sehr schmerzhaft empfundener Leidenszug eingetragen, aber die Schläfen und das Kinn zeigten Schläue, verrieten Tempo, verlässige Schnelligkeit und Intelligenz. Den Ausdruck und die Farbe seiner Augen konnte sie nicht erkennen, aber seine Haare erkannte sie als glatt und schwarz, sie fielen ihm manchmal locker ins Gesicht, und dann mußte er sie wegstreichen. Hauptsächlich aber wirkte er unauffällig. Er war ganz anders als die jungen Männer aus dem Tennisclub in Harvestehude, die sie kennengelernt hatte, solange sie die Plätze noch hatte benutzen dürfen, und die immer noch mit einem Hallo und gespielter Nonchalance auf sie zukamen, wenn sie ihnen auf der Straße begegnete. Es waren durchweg gutaussehende, sympathische junge Männer gewesen, aber es wurde ihr jetzt bewußt, daß sie keinen Moment lang auf die Idee gekommen war, sich etwa an einen von ihnen um Hilfe zu wenden. Zu den Spielregeln dieser Tennispartner und Gentlemen gehörte das Hallo und die Selbstverständlichkeit, mit der sie über ihre Lage hinwegsahen, - Hilfe gehörte nicht dazu. Auch Heise war kein Mann der Hilfe, er war nur ein Mann eleganter Vorschläge, ein Herr, der todsichere Fluchtwege wußte, aber niemals bereit gewesen wäre, Judith auf ihnen zu begleiten. Und beinahe lächelnd erinnerte Judith sich nun ihres letzten Traums: des Plakats von den schmissigen Seeoffizieren, den Kavalieren mit den intakten Ehrbegriffen, das sich als ein Limonadeplakat erwiesen hatte, in der Kapitänskajüte des schwedischen Schiffes. Möglicherweise gab es noch irgendwo Gentlemen, aber hierzulande schienen sie ausgestorben zu sein. Das Gesicht der Hilfe sah anders aus, - vielleicht sah es aus wie das schmale, magere Gesicht eines Automonteurs
Weitere Kostenlose Bücher