Sansibar Oder Der Letzte Grund
einmal nach Norwegen gereist, aber aus irgendwelchen Gründen war die Reise nie zustande gekommen, so daß er dazu verurteilt war, über einem Traum-Norwegen zu schaukeln. Das einzige, was dieser Traum mit dem Traum von Lille zu tun hatte, war, daß auch er so trostlos war wie das Schlafgesicht von der Selbstmörderin. Auch die Schaukel schwang in einem Norwegen, das ein Totenreich war. Diese wiederkehrenden Träume, dachte Helander, sind immer meine stärksten Gottesbeweise gewesen, denn immer, wenn ich aus ihnen aufwachte, war mein erster Gedanke, noch im Halbschlaf: ich habe in einer Welt gelebt, die erlöst werden muß. Einmal hatte er monatelang die Schriften Freuds studiert, um eine Erklärung für seine Träume zu finden, und er hatte festgestellt, daß dieser Mann, den er von da an bewunderte und liebte, in der Tat die Geheimnisse im Vorhof der Seele gelöst hatte: Helanders Träume waren Symbole unterdrückter Triebe, Bilder von Liebe und Tod. Aber Freud lieferte ihm keine Erklärung für die Stimmung seiner Träume; denn ihre Handlung war nicht so wichtig wie ihre Stimmung, die ihn in eine Welt aus Ödnis, Schmutz, Dämmerung, Kälte und Hoffnungslosigkeit einschloß und zuletzt in eine furchtbare Leere, so daß er sogar noch im Traum selbst den Gedanken vollzog: wenn es eine Hölle gibt, so muß dies die Hölle sein. Die Hölle, das war nicht ein Raum aus Hitze und Feuer, ein Raum, in dem man brannte, — die Hölle war der Raum, in dem man fror, sie war die absolute Leere. Die Hölle war der Raum, in dem Gott nicht war.
Helander dachte: ich möchte nicht in die Hölle kommen, während er im Dunkel auf dem Sofa seines Studierzimmers lag. Sein Beinstumpf schmerzte jetzt fast gar nicht, er spürte, seitdem er sich von der Prothese befreit und auf das Sofa gelegt hatte, nur einen kleinen dumpfen Druck, der leicht zu ertragen war. Er hatte sich langsam, fast zentimeterweise aus der Kirche zum Pfarrhaus hinübergeschleppt, im Flur war die Haushälterin angstvoll aus ihrem Zimmer gekommen und hatte ihn gefragt, ob sie ihm helfen solle, aber er hatte sie abgewiesen und war allein nach oben gegangen, er hatte sie noch eine Weile unten rumoren gehört ehe es still wurde, es war spät gewesen, gegen ein Uhr, und er hatte beschlossen, das Morgengrauen in den Kleidern zu erwarten. Nur die Prothese hatte er abgelegt, und er hatte gedacht: ich werde sie nie mehr anlegen.
Die Tabletten, die er genommen hatte, versenkten ihn wieder in Schlaf, aus dem er diesmal erst aufwachte, als es schon hell war. Er sah auf die Uhr: sie zeigte auf sechs. Das Licht war trüb und grau, die Wand des Seitenschiffs der Georgenkirche stand schmutzigrot wie eine Fabrikwand vor dem Fenster. Der Pfarrer griff nach den alten Krücken, die er sich bereitgestellt hatte, er richtete sich auf, zog sich an dem Mittelgriff der einen Krücke hoch und schob sich die gepolsterten Stützen unter die Achseln. Dann schwang er sich mit zwei Bewegungen zum Fenster hin. Er spähte hinaus und stellte fest, daß das Rad noch immer an der Pfarrhauswand lehnte. Während er wartete, spürte er, daß die Wirkung der Tabletten nachgelassen hatte, die Wunde schmerzte wieder stärker; weil die Prothese nicht mehr auf sie drückte, war der Schmerz offen und brennend.
Nach einer Weile sah er den Mann, der sich Gregor nannte, an den Häusern entlang kommen. Der junge Mensch benimmt sich wunderbar unauffällig, dachte Helander, wenn ich nicht wüßte, welche Bedeutung er hat, würde er mir nicht auffallen, nicht einmal in dieser Stadt, die so klein ist, daß jeder auf jeden aufpaßt und jeder, der neu ist, von tausend Augen registriert wird. Der hier ist nicht neu, er ist irgendwer, ein magerer, unauffälliger Mensch in einem grauen Allerweltsanzug mit Fahrradklammern an den Hosen, ein Aushilfsbote von der Post oder der Sohn eines Installateurmeisters, der schon morgens raus mußte, um eine Wasserleitung zu flicken, so also sehen in unserer Zeit die Boten und die Söhne aus, die Boten der Rettung und die Söhne der Ideen: man kann sie nicht unterscheiden. Man konnte sie nicht erkennen, außer in ihren Handlungen. Sie sind keine Persönlichkeiten, dachte Helander, sie haben den Ehrgeiz, das Richtige zu tun und nicht aufzufallen. Sie glauben an nichts mehr, dieser junge Mensch glaubt nicht mehr an seine Partei und er wird niemals an die Kirche glauben, aber immer wird er bemüht sein, das Richtige zu tun, und weil er an nichts glaubt, wird er es unauffällig tun und sich
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