Santiago liegt gleich um die Ecke
einer Plastiktüte voller Getränkeflaschen etwas verunsichere, und anschlieÃend noch ein wenig durch das Haus. In einer Ecke stehen zwei Sessel vor einem gusseisernen Ofen, davor zwei spielende Keramikkätzchen. Auf einem kleinen Beistelltischchen entdecke ich einen Teller mit zwei unverschämt lecker aussehenden Ãpfeln samt Messer zum Aufschneiden. Auf einem Sekretär, der eine Ecke des Raums ausfüllt wie Oli Kahn sein Tor, finde ich ein riesiges Gästebuch, im Regal daneben einen Kalender mit Jakobsweg-Sprüchen. Einige davon notiere ich mir. Oft liegt das Ziel nicht am Ende des Wegs, sondern an seinem Rand , lese ich zum Beispiel. Auf vielen Wegen kannst Du Dich verlieren. Finden nur auf Deinem. Und: Menschen, nicht Mauern machen Städte . Ich bin todmüde. Und doch den Tränen nah. Keine Ahnung, warum. Spirituell hat mich dieser Tag ja nun nicht so arg weitergebracht. Trotzdem fühle ich mich innerlich seltsam satt. An Gott kann ich nicht glauben. Aber an Menschen wie meine Vermieterin irgendwie schon. Ich schleppe mich ins Bett und schlafe auf der Stelle ein.
Weisheit â oder auch nicht Und das Grillteller-Wunder vom Gevel-Berg
Mittwoch, 8. April 2009 â Herdecke bis Gevelsberg
Als Erstes zerdeppere ich ein rohes Ei auf dem Frühstückstisch. Dann werfe ich das Milchkännchen runter. Kein Wunder: Ich habe unter meiner Decke gelegen wie ein Stein unter zwei Metern Erde. Falls tatsächlich Gespenster aus dem Schrank gekommen sind, haben sie mich nicht geweckt. Oder es nicht geschafft. Egal: Dafür bin ich tot. Immer noch. Auch deshalb versuche ich heute Morgen, bewusst alles etwas langsamer zu machen als sonst. SchlieÃlich wird es allmählich Zeit, dass ich etwas ruhiger werde: Das ist eine Pilgerreise , da wird man zu einem weiseren Menschen, oder? Und die hetzen nun mal nicht! Auf dem Plan stehen heute Hagen-Haaspe â neun Kilometer, Schwierigkeitsgrad laut Pilgerführer »mittel« â und Gevelsberg, zehn Kilometer in der Kategorie »mittel bis schwer«. Werdâ die Etappen trotzdem zusammenfassen. Neun Kilometer gehen ja gar nicht!
Der Rucksack ist schnell gepackt, aber wieder habe ich das Gefühl, dass irgendwas fehlt. Kulturbeutel? Als ich ihn aus dem Bad hole, fällt mein Blick auf die Sachen, die ich dort gestern zum Trocknen aufgehängt habe. Ohne durchschlagenden Erfolg, wie sich jetzt zeigt â vielleicht hätte ich die Heizung doch anmachen sollen. Egal: Ins Haus gegenüber gehe ich wie auf Glas. Mit dem Schlüssel in der Hand will meine Gastgeberin, sie heiÃt Ines Berger, wie ich Zeitungsausschnitten im Hotel inzwischen entnehmen durfte, noch wissen, ob ich was im Gästebuch hinterlassen habe â mit einem Glänzen in den Augen wie bei einem
jungen Mädchen, das sich auf ein Weihnachtsgeschenk freut. Ein Foto darf ich leider nicht von ihr machen. Dass ich nicht darauf bestanden habe, ist eines der wenigen Dinge auf dieser Reise, die ich später wirklich bereue.
Neun Uhr! Die Luft riecht frisch, als würde ich in Island auf einem Gletscher stehen; nachts muss es geregnet haben, aber jetzt leuchtet der Himmel wie eine Flasche Wodka Wick Blau. Auch mein Weg zeigt sich zunächst groÃzügig: Es geht zurück zur Ruhr; am anderen Ufer dann ein Stück nach Westen und zack â bin ich wieder im Grünen. Auf den Bordstein des Wegs hat jemand mit blauer Farbe »UMARME MICH« geschrieben, ein paar Meter weiter folgt das dazugehörige »BITTE«. Alles in GroÃbuchstaben, aber trotzdem ganz leise. Wer mag das dahin gemalt haben? Hoffentlich nicht der Typ, der sich die heutige Wegführung ausgedacht hat â über den darf ich mich nämlich wundern: Es geht den Kaisberg rauf und danach gleich wieder runter. Das hätte man vielleicht auch einfacher haben können!
Immerhin: Auch Karl der GroÃe soll hier oben vorbeigeschaut haben, bevor er sich die Sigiburg genommen hat. Da will ich natürlich nicht zurückstehen. Und langsam gewinnt der Weg wieder an Kraft: Nach etwa drei Kilometern fällt mir auf, wie leicht mir heute Morgen das Aufbrechen gefallen ist. Nach vieren mache ich mir Gedanken über die Hotelbesitzerin. Mir wird klar, dass sie für vieles steht, was mit Christentum eigentlich gemeint ist. Und frage mich, ob das Bild, das ich von Christen habe, vielleicht doch ein wenig zu sehr von den Medien geprägt ist: Da sieht man in erster Linie
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