Santiago liegt gleich um die Ecke
evangelikale Spinner, Eiferer und durchgeknallte Fanatiker jeder Kajüte, die ihren Kindern alles verbieten, was die Natur ihnen mit einem fröhlichen Augenzwinkern ins Körbchen gelegt hat; das alles garniert mit bigotten Kirchenfunktionären, denen heiliger Anschein und Karriere wichtiger sind als die Menschen. Aber vielleicht müssen die ja auch heiliger sein als heilig: Wer scharfe Schatten werfen will, braucht nun mal Kanten, denke ich. Vielleicht lassen all diese Ãberheiligen ja nach Feierabend die Sau raus. Ich willâs jedenfalls hoffen. Zum Glück scheint Berger nicht die einzige richtige Christin hier zu sein: In der Nähe des Friedhofs Vorhalle reiÃt sich eine Frau ein Bein aus, um mir den Weg zu erklären. Ich habe mich zwar gar nicht verlaufen, höre aber trotzdem geduldig zu und bedanke mich.
Schon fast zehn Kilometer auf dem Tacho. Es ist angenehm kühl, der Himmel immer noch blau wie die Augen von Terence Hill: Was will der Pilger mehr? Hinter Vorhalle wird der Weg schnell wieder schön. Wald! Laut Reiseführer sind die Pfade in diesem Gebiet älter als 150 Jahre. Komisch, wie wenig mir FüÃe und Rücken heute wehtun. 4,4 km/h â nicht übel! O. K. â ich hatte mir gute zehn Prozent mehr vorgenommen ⦠Aber allmählich kehrt in meine Schritte
irgendwie so etwas wie Ruhe ein. Auch die Gedanken werden flacher und langsamer wie der Atem eines Zen-Meisters, auch sie schreiten mit kleineren Schritten voran. Tatsächlich erinnert mich Gehen plötzlich ein wenig an Luft holen. Ab und zu sprudeln noch ein paar Bilder von meiner Arbeit und dem ganzen Stress zu Hause in mir hoch, aber im GroÃen und Ganzen nimmt mich allmählich doch eine Art loungige Gelassenheit an die Hand. Ich wundere mich über das, was ich gestern noch für innere Ruhe gehalten habe und bin gespannt auf das, was da noch kommt!
Irgendwann sind allerdings die Muschel-Hinweise, die bisher in mehr oder weniger regelmäÃigen Abständen an den Bäumen geprangt haben, verschwunden. Nicht so schlimm, ich habe ja meinen GPS-Empfänger und eine gute Karte dabei, ich kann mich also gar nicht verlaufen, selbst wenn ichâs versuchen würde. Allerdings scheint nicht alles in mir dieser Ansicht zu sein: Kaum habe ich gemerkt, dass es ein Problem gibt, stellt sich dieser Druck im Kopf wieder ein, mit dem mein Körper in den letzten Monaten auf Stress reagiert hat. Plötzlich wird mir bewusst, dass diese Kopfschmerzen die letzten zwei Tage verschwunden waren. Aha, das war also der Normalzustand? So fühlt sich das an, wenn nichts ist? Nach ein paar Metern fallen mir ein paar hohe, schlanke Bäume auf, deren Kronen sich im Wind hin und her wiegen, als hätten sie sich etwas Wichtiges zu erzählen. In der Nähe entdecke ich eine Bank und beschlieÃe spontan, Mittagspause zu machen. Setze mich, lehne mich zurück und vergesse den Weg. Strecke die Beine aus. Irgendwie könnte ich diesen Bäumen stundenlang zuschauen. Wow.
Was für ein Schock! Eben lenkte ich meine Schritte noch über verwunschene Pfaden entlang von Feldern, Wiesen und Weidezäunen, wie man sie eher im alpinen
Hochgebirge erwarten würde, dann schlägt der Weg einen Haken â und plötzlich befinde ich mich auf einer grauen StraÃe ohne jegliche Spur einer Bepflanzung. Hagen-Haspe! Mein Gott â ich laufe auf einen ehemaligen Bunker zu. Um den â sagen wir mal: urbanen â Eindruck dieses städtebaulichen Kleinods nicht zu zerstören, haben die Bewohner des Ãrtchens das Ding bemalt. Aber nicht mit Grünzeug, wie man es anderswo vielleicht machen würde, sondern mit einem Haus, einem Förderturm und irgendwelchen Industrieanlagen. Davor immerhin zwei (echte) Bäume, die sich in dem Gesamtensemble allerdings ausnehmen, als hätte jemand ihre Samen vor Jahren versehentlich da fallen lassen. O. K.: In Haspe lag mal einer der Hagener Richtplätze. Hier warteten Rad und Galgen auf Verurteilte: Solche Orte waren bei den Leuten ja nie sehr beliebt ⦠Kann sich der Charakter eines solchen Platzes bis heute halten? Warum leben Menschen in so einem Ort, wo es doch ganz in der Nähe Kleinode wie Herdecke gibt? Ein paar Meter vor dem Industrie-Bunker finde ich immerhin ein Café, das den schönen Namen »Himmlisch« trägt. Ich werfe meinen Rucksack an die Wand und mich in einen Sessel, der mindestens so bequem ist wie meine
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