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Sara

Sara

Titel: Sara Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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verbracht hat, sich Geschichten auszudenken, sind diese Halsbänder, glaube ich, noch lockerer und die Hunde nicht so erpicht darauf, sie zu tragen. War es Shaw oder Wilde, der gesagt hat, daß ein Schriftsteller jemand ist, der seinem Verstand beibringt, sich schlecht zu benehmen?
    Und ist der Gedanke wirklich so weit hergeholt, daß die Unterbrechung des Rituals eine Rolle dabei gespielt haben könnte, mein plötzliches und unerwartetes (zumindest von mir unerwartetes) Schweigen herbeizuführen? Wenn man sich sein täglich Brot im Land des Fantasierens verdient, ist die Linie zwischen dem, was ist, und dem, was zu sein scheint, viel dünner. Maler weigern sich manchmal zu malen, wenn sie nicht eine bestimmte Mütze tragen, und Baseballspieler mit einer guten Trefferquote weigern sich, die Socken zu wechseln.
    Das Ritual fing mit dem zweiten Buch an, das einzige, bei dem ich nervös war, soweit ich mich erinnern kann - ich nehme an, ich hatte zuviel von diesem Studienanfängeraberglauben verinnerlicht: die Vorstellung, daß ein Treffer lediglich ein Glücksfall sein könnte. Ich entsinne mich, wie ein Literaturdozent einmal sagte, von den modernen amerikanischen
Schriftstellern habe lediglich Harper Lee einen narrensicheren Weg gefunden, die mit dem zweiten Buch verbundene Depression zu vermeiden.
    Als ich zum Ende von Der Mann im roten Hemd kam, hörte ich unmittelbar vor dem letzten Satz auf. Die Edwardianische Villa in der Benton Street in Derry lag zu dem Zeitpunkt noch zwei Jahre in der Zukunft, aber wir hatten Sara Lacht gekauft, das Haus am Dark Score (längst nicht so ausgestattet wie später, und Jos Atelier noch nicht gebaut, aber hübsch), und da hielten wir uns auf.
    Ich rückte von der Schreibmaschine ab - damals klammerte ich mich noch an meine alte IBM Selectric - und ging in die Küche. Es war Mitte September, die meisten Sommergäste waren abgereist, und der Ruf der Eistaucher auf dem See hörte sich unbeschreiblich schön an. Die Sonne ging unter, der See selbst war zu einer stillen und kalten Platte aus Feuer geworden. Das ist eine meiner deutlichsten Erinnerungen, so klar, daß ich manchmal glaube, ich könnte einfach hineintreten und alles noch einmal erleben. Was, wenn überhaupt etwas, würde ich anders machen? Das frage ich mich manchmal.
    Am frühen Abend hatte ich eine Flasche Taittinger und zwei Champagnergläser in den Kühlschrank gestellt. Nun holte ich sie heraus und stellte sie auf ein kleines Tablett, das für gewöhnlich dazu diente, Krüge mit Eistee oder Fruchtsaft von der Küche auf die Veranda zu befördern, und trug es vor mir her ins Wohnzimmer.
    Johanna saß tief in ihrem fadenscheinigen alten Sessel und las ein Buch (in jener Nacht nicht Maugham, sondern William Denbrough, einer ihrer damaligen Lieblingsschriftsteller). »Oooh«, sagte sie, schaute auf und markierte die Stelle, wo sie war. »Champagner, aus welchem Anlaß?« Als ob sie es nicht wüßte, verstehen Sie?
    »Ich bin fertig«, sagte ich. » Mon livre est tout finis .«
    »Nun«, sagte sie lächelnd und nahm eins der schlanken Gläser, als ich mich mit dem Tablett hinunterbeugte, »dann geht das ja in Ordnung, richtig?«
    Inzwischen ist mir klar, daß die Essenz des Rituals - der Teil, der wahrhaft beseelt und mächtig war, wie das eine
wahre Zauberwort in einem Schwall Geschwafel - dieser Ausdruck war. Wir tranken fast immer Champagner, und danach kam sie fast immer zu dieser anderen Sache mit in mein Arbeitszimmer, aber nicht immer.
    Einmal, rund fünf Jahre vor ihrem Tod, war sie in Irland, wo sie Ferien mit einer Freundin machte, als ich ein Buch beendete. Damals trank ich den Champagner allein und gab auch den letzten Satz allein ein (inzwischen benutzte ich einen Macintosh, der eine Milliarde verschiedener Funktionen hatte, von denen ich nur eine einzige nutzte), und ich hatte deswegen keine schlaflose Minute. Aber ich rief sie in dem Gasthaus an, wo sie und ihre Freundin Bryn wohnten; ich sagte ihr, daß ich fertig war, und hörte, wie sie die Worte sagte, um derentwillen ich angerufen hatte - Worte, die in ein irisches Telefon gesprochen wurden, durch einen Mikrowellensender reisten, wie ein Gebet zu einem Satelliten aufstiegen und dann zu meinem Ohr herunterkamen: »Nun, dann geht das ja in Ordnung, richtig?«
    Wie schon gesagt, dieser Brauch begann mit dem zweiten Buch. Wenn wir beide ein Glas Champagner getrunken und nachgefüllt hatten, nahm ich sie mit ins Arbeitszimmer, wo noch ein einziges Blatt

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