Sara
angeblich gesagt, »ist jede noch so brillant charakterisierte Figur in einem Buch nichts weiter als ein Sack voll Knochen.« Das verstand ich, weil ich mich in diesen endlosen, heuchlerischen Tagen genau so fühlte: wie ein Sack voll Knochen.
Gestern nacht träumte ich, ich sei wieder nach Manderley gegangen.
Wenn es eine schönere und packendere erste Zeile in der englischen Literatur gibt, habe ich sie nie gelesen. Und im Herbst 1997 und Winter 1998 hatte ich hinreichend Gelegenheit, an diese Zeile zu denken. Natürlich träumte ich nicht von Manderley, sondern von Sara Lacht, das Jo manchmal ›das Versteck‹ nannte. Ich schätze, das ist eine angemessene Beschreibung für ein Haus so weit oben in den Wäldern des westlichen Maine, daß es nicht einmal in einer Stadt liegt, sondern in einem nicht eingemeindeten Gebiet, das auf Karten des Staates mit TR-90 bezeichnet wird.
Der letzte dieser Träume war ein Alptraum, aber bis dahin waren sie von einer gewissen surrealistischen Schlichtheit. Es waren Träume, aus denen ich mit dem Wunsch erwachte, das Licht im Schlafzimmer einzuschalten, um meinen Platz in der Realität zu bestätigen, ehe ich wieder einschlief. Sie wissen, wie die Atmosphäre unmittelbar vor einem Gewitter ist, wie alles still wird, und Farben scheinen mit der Brillanz von Dingen hervorzutreten, die man bei hohem Fieber sieht? So waren meine Winterträume von Sara Lacht, denn jeder ließ mich
mit einem Gefühl zurück, das nicht ganz das von Krankheit war. Ich habe wieder von Manderley geträumt , dachte ich manchmal, und manchmal lag ich bei eingeschaltetem Licht im Bett, lauschte dem Wind draußen, sah in die schattigen Ecken des Schlafzimmers und dachte, daß Rebecca de Winter nicht im Meer, sondern im Dark Score Lake ertrunken war. Daß sie gurgelnd und um sich schlagend untergegangen war, mit Wasser in ihren seltsamen dunklen Augen, während die Eistaucher gleichgültig ihre Rufe in der Dämmerung erschallen ließen. Manchmal stand ich auf und trank ein Glas Wasser. Manchmal machte ich nur das Licht wieder aus, wenn ich mich vergewissert hatte, wo ich war, drehte mich auf die Seite und schlief wieder ein.
Tagsüber dachte ich kaum einmal an Sara Lacht, und erst später wurde mir klar, daß etwas ernstlich aus den Fugen ist, wenn eine derartige Diskrepanz zwischen dem Wach- und Traumleben eines Menschen besteht.
Ich glaube, Harold Oblowskis Anruf im Oktober 1997 löste die Träume aus. Harolds vorgeblicher Grund für seinen Anruf war, mir zur bevorstehenden Veröffentlichung von Darcy’s Bewunderer zu gratulieren, das verdammt spannend war, aber auch einige extrem tiefschürfende Scheiße enthielt. Ich vermutete, daß er zumindest einen weiteren Punkt auf seiner Liste hatte - das ist bei Harold meistens so -, und ich hatte recht. Er war tags zuvor mit Debra Weinstock essen gewesen, meiner Lektorin, und sie hatten sich über den Herbst 1998 unterhalten.
»Prallvoll«, sagte er und meinte die Herbstvorschauen, besonders die Belletristik hälfte der Herbstvorschauen. »Und es gibt einige überraschende Ergänzungen. Dean Koontz -«
»Ich dachte, er erscheint immer im Januar«, sagte ich.
»So ist es, aber Debra hat gehört, sein neues Buch könnte sich verzögern. Er möchte noch einen Teil einfügen, oder so. Außerdem erscheint ein neuer Harold Robbins, Raubtiere -«
»Tolle Geschichte.«
»Robbins hat noch seine Fans, Mike, hat noch seine Fans. Du selbst hast mehr als einmal betont, daß Schriftsteller einen langen Atem haben.«
»Hm-hmm.« Ich nahm den Hörer an das andere Ohr und lehnte mich im Stuhl zurück. Dabei fiel mein Blick auf das gerahmte Foto von Sara Lacht. Ich sollte in den Träumen der kommenden Nacht länger und in größerer Nähe bei dem Haus verweilen, aber das wußte ich da noch nicht; ich wußte nur, daß ich mir mehr als alles andere wünschte, Harold Oblowski würde sich beeilen und zur Sache kommen.
»Ich spüre Ungeduld, Michael, mein Junge«, sagte Harold. »Hab’ ich dich am Schreibtisch erwischt? Bist du am Arbeiten?«
»Bin gerade für heute fertig«, sagte ich. »Aber ich denke ans Mittagessen.«
»Ich werde mich beeilen«, versprach er, »aber bleib dran, es ist wichtig. Möglicherweise veröffentlichen fünf andere Autoren, bei denen wir nicht damit gerechnet haben, im nächsten Herbst: Ken Follett … soll sein bestes seit Die Nadel sein … Belva Plain … John Jakes …«
»Keiner von denen spielt auf meinem Platz Tennis«, sagte ich,
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