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Sara

Sara

Titel: Sara Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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abgerissen - noch nicht -, aber es hatte ihn wie ein Band verdreht. Ich erinnere mich an einen Wochenschaubericht während einer Samstagsmatinee in meiner Kindheit,
Filmmaterial von einer Hängebrücke, die in einem Hurrikan tanzte, und so sah jetzt der Steg zwischen Warrington’s und der Sunset Bar aus. Er wogte auf dem aufgewühlten Wasser auf und ab und ächzte in sämtlichen Gelenken wie ein Akkordeon aus Holz. Der Steg hatte ein Geländer gehabt - vermutlich, damit alle, die eine lange Nacht hinter sich hatten, wohlbehalten zum Ufer zurückkehren konnten -, aber das war nun verschwunden. Kyra befand sich auf halber Länge des schwankenden, tanzenden Holzstegs. Ich konnte mindestens drei schwarze Rechtecke zwischen dem Ufer und der Stelle sehen, wo sie stand; Stellen, wo Bretter herausgebrochen waren. Unter dem Steg ertönte das unruhige Klong-klong-klong der leeren Stahlfässer, die ihn trugen. Mehrere dieser Fässer waren abgerissen und trieben davon. Ki hatte die Arme ausgestreckt wie ein Seiltänzer im Zirkus, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Das schwarze Harley-Davidson-T-Shirt flatterte um ihre Knie und die sonnengebräunten Schultern.
    » Komm zurück! « kreischte Rogette. Ihr dünnes Haar wehte ihr um den Kopf; der glänzende schwarze Regenmantel, den sie trug, flatterte. Jetzt streckte sie beide Hände aus, eine blutig, eine nicht. Mir kam der Verdacht, daß Ki sie gebissen haben könnte.
    » Nein, weiße Nana! « Ki schüttelte wild verneinend den Kopf, und ich wollte ihr sagen: Mach das nicht, Ki-bird, nicht so den Kopf schütteln, ganz schlechte Idee. Sie schwankte, ein Arm zeigte zum Himmel, der andere zum Wasser, so daß sie einen Moment aussah wie ein Flugzeug bei einem steilen Wendemanöver. Wenn der Steg in diesem Moment eine ruckartige Bewegung unter ihr gemacht hätte, wäre Ki seitlich heruntergefallen. Statt dessen erlangte sie ein prekäres Gleichgewicht wieder, aber ich glaubte zu sehen, wie ihre bloßen Füße ein kurzes Stück auf den schlüpfrigen Brettern rutschten. » Geh weg, weiße Nana, ich will nicht zu dir! Geh … geh ein Schläfchen machen, du siehst müde aus! «
    Ki sah mich nicht; ihre ganze Aufmerksamkeit galt der weißen Nana. Die weiße Nana sah mich auch nicht. Ich ließ mich auf den Bauch nieder und zwängte mich unter dem Baum durch, indem ich mich mit den Fingern ins Erdreich eingrub
und vorwärts zog. Donner rollte über den See wie ein großer Mahagoniball, das Geräusch hallte von den Bergen wider. Als ich mich wieder auf die Knie aufrichtete, sah ich, daß sich Rogette langsam am Ufer aufliegenden Ende des Stegs näherte. Für jeden Schritt vorwärts, den sie machte, ging Kyra unsicher einen gefährlichen Schritt zurück. Rogette streckte die unversehrte Hand aus, aber einen Augenblick dachte ich, die hätte auch angefangen zu bluten. Aber die Flüssigkeit, die zwischen ihren verkrümmten Fingern herausfloß, war zu dunkel für Blut, und als sie zu sprechen anfing, mit einer tückischen, lockenden Stimme, bei der ich eine Gänsehaut bekam, wurde mir klar, daß es schmelzende Schokolade war.
    »Laß uns das Spiel spielen, Ki-bird«, gurrte Rogette. »Möchtest du anfangen?« Sie machte einen Schritt. Ki machte einen kompensatorischen Schritt rückwärts, taumelte, erlangte das Gleichgewicht wieder. Mein Herz blieb stehen und schlug danach um so schneller. Ich überbrückte die Entfernung zwischen mir und der Frau, so schnell ich konnte, ohne direkt zu rennen; ich wollte nicht, daß sie etwas hörte, bis sie wieder wach wurde. Falls sie wieder wach wurde. Mir war es gleichgültig, ob sie wach wurde oder nicht. Verdammt, wenn ich George Footmans Schädel mit einem Hammer einschlagen konnte, dann konnte ich ganz gewiß auch diesem Horrorweib Schaden zufügen. Beim Gehen verschränkte ich beide Hände zu einer großen Faust.
    »Nein? Du möchtest nicht anfangen? Zu schüchtern?« Rogette sprach mit einer zuckersüßen Romper-Room -Stimme, bei der ich mit den Zähnen knirschen wollte. »Na gut, dann fange ich eben an. Schaf! Was reimt sich auf Schaf, Ki-Bird? Schlaf … du hast geschlafen, richtig, als ich gekommen bin und dich geweckt habe. Und brav … bist du ein braves Mädchen und setzt dich auf meinen Schoß, Ki-Bird? Wir füttern uns gegenseitig mit Schokolade, wie früher … ich erzähle dir einen neuen Klopf-klopf-Witz …«
    Noch ein Schritt. Sie kam zum Rand des Stegs. Wenn sie daran gedacht hätte, hätte sie einfach Steine nach Kyra werfen können

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