Sara
es in diesem Moment empfand. Aber sie war fort; nicht einmal ein Flüstern von ihr war übriggeblieben. Da ich ganz auf mich allein gestellt war, ging ich auf der von Bäumen fast unpassierbar gemachten Straße nach Süden, wich den umgestürzten Stämmen aus, wo ich konnte, kroch unter ihnen durch, wenn sie den
Weg völlig versperrten, und entschied mich nur, wenn es gar nicht anders ging, für die geräuschvolle Methode, über sie hinwegzuklettern und dabei Äste abzubrechen. Unterwegs sprach ich sämtliche Gebete, die in so einer Situation vermutlich zum Standardrepertoire gehören, aber keines schien am Bild von Rogette Whitmores Gesicht vorbeizukommen, das mir durch den Kopf ging. Ihrem schreienden, gnadenlosen Gesicht.
Ich erinnere mich, daß ich dachte: Das ist die Freiluftversion der Geisterbahn. Mir kam es auf jeden Fall so vor, als würde es im Wald spuken, während ich mich vorwärts kämpfte: Bäume, die bei der ersten Etappe des gewaltigen Orkans nur gelockert worden waren, fielen im neuerlichen Ansturm von Wind und Regen zu Dutzenden um. Das Geräusch glich gewaltigen, knirschenden Schritten, ich mußte mir keine Gedanken wegen meiner eigenen machen. Als ich am Haus der Batchelders vorbeikam, einer runden Fertigbaukonstruktion, die auf einem Felsvorsprung ruhte wie ein Hut auf einem Fußschemel, sah ich, daß das gesamte Dach von einer Schierlingstanne eingedrückt worden war.
Eine halbe Meile südlich von Sara sah ich eines von Kis weißen Haarbändern auf dem Weg liegen. Ich hob es auf und dachte, wie sehr der rote Rand doch an Blut erinnerte. Dann steckte ich es in die Tasche und ging weiter.
Fünf Minuten später kam ich zu einer alten, moosbewachsenen Kiefer, die über den Weg gefallen war; sie war noch durch ein überdehntes und verbogenes Netzwerk von Splittern mit dem Stumpf verbunden und ächzte wie eine ganze Reihe rostiger Scharniere, wenn die Wellen im Wasser die ehemals oberen acht oder neun Meter hoben und senkten, die jetzt im See trieben. Es war Platz genug, um darunter durchkriechen zu können, und als ich auf die Knie ging, sah ich die Spuren anderer Knie, die sich gerade mit Wasser füllten. Und ich sah noch etwas: ein zweites Haarband. Ich steckte es zu dem ersten in die Tasche.
Ich war halb unter der Kiefer, als ich einen weiteren Baum umfallen hörte, diesmal viel näher. Dem Geräusch folgte ein Schrei - nicht Schmerz oder Angst, sondern Überraschung
und Wut. Dann konnte ich selbst über das Rauschen von Regen und Wind Rogettes Stimme hören: » Komm zurück! Geh nicht da raus, das ist gefährlich! «
Ich zwängte mich das restliche Stück unter dem Baum durch, spürte kaum, wie mir ein Aststumpf den Rücken aufriß, stand auf und sprintete den Weg entlang. Wenn die umgestürzten Bäume klein waren, sprang ich, ohne langsamer zu werden, darüber hinweg. Waren sie größer, kletterte ich darüber, ohne mich darum zu kümmern, wo sie mich kratzen oder stechen konnten. Donner knallte. Ein gleißend heller Blitzschlag folgte, und in seinem Licht sah ich graue Scheunenbretter zwischen den Bäumen. An dem Tag, als ich Rogette zum erstenmal gesehen hatte, hatte ich nur einen flüchtigen Blick auf das Blockhaus von Warrington’s werfen können, aber jetzt war der Wald aufgerissen worden wie ein altes Gewand - es würde Jahre dauern, bis sich diese Gegend regeneriert hatte. Zwei riesige Bäume, die gegeneinander gefallen zu sein schienen, hatten den hinteren Teil des Gebäudes weitgehend zerstört. Sie lagen über Kreuz wie Messer und Gabel auf einem Teller und bildeten ein ungleichmäßiges X auf den Ruinen.
Kis Stimme konnte man nur über das Tosen des Sturms hören, weil sie schrill vor Angst war: » Geh weg! Ich mag dich nicht, weiße Nana! Geh weg! « Es war grauenhaft, das Entsetzen in ihrer Stimme zu hören, aber es war wunderbar, ihre Stimme überhaupt zu hören.
Etwa zwölf Meter von der Stelle entfernt, wo ich beim Klang von Rogettes Stimme erstarrt war, lag noch ein Baum über dem Weg. Rogette selbst stand auf der anderen Seite und streckte eine Hand nach Ki aus. Blut tropfte von der Hand, aber das bemerkte ich kaum. Ich hatte nur Augen für Kyra.
Der Steg, der zwischen der Straße und der Sunset Bar verlief, war lang - mindestens zwanzig Meter, vielleicht dreißig. Lang genug, um an einem hübschen Sommerabend Hand in Hand mit seiner Herzallerliebsten darüber zu schlendern und sich eine denkwürdige Erinnerung zu verschaffen. Der Sturm hatte den Steg nicht
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