Sarah Boils Bluterbe (German Edition)
nutze, ohne gleich einen Schwächeanfall zu unterliegen. Alles fühlte sich an diesem Morgen so leicht an. Am Spinat konnte es nicht gelegen haben, ich hatte schon ewig keinen mehr gegessen. Ich nickte ihm nervös zu, sprang plötzlich wie von der Tarantel gestochen auf und lief die Treppen zur Umkleidekabine hinunter. Roland starrte mir verblüfft hinter her.
„Ehj, dat war doch nit so jemeint.“
Seine Worte hallten durch die große Halle.
„Es ist nicht deine Schuld,“ murmelte ich und lief weiter.
Was geschieht hier eigentlich mit mir?
Das beklemmende Gefühl wurde immer stärker und ich rang nach Luft. Atme durch, das bildest du dir jetzt alles ein. Du hast über Nacht keine Superkräfte bekommen. Ich musste dringend duschen, ich riss den Spind auf, schlüpfte schnell in meine Klamotten, warf die Sporttasche über meine Schulter, preschte die Treppe hinauf und fuhr schnurstracks heim. Im Treppenhaus angekommen, fischte ich im Briefkasten nach der Post, spurtete die wenigen Stufen hinauf, schloss die Wohnungstüre auf, warf den Stapel Briefe unbeachtet in die Küche und stellte mich erst mal unter die Dusche. Das Wasser tat gut. Es floss warm über meine Haut. All die Gedanken, die meinen Geist lähmten versickerten allmählich im gluckernd im Abfluss. Das leise Prasseln der feinen, kleinen Wasserstrahlen beruhigte mich ein wenig. Doch es war nur von kurzer Dauer. Meine noch aktiven Gehirnzellen ließen sich nur kurz ablenken. Ich schloss die Augen. Mein Gehirn rief erneut die Daten des letzten Tages ab. Doch plötzlich erschien Lionel in seiner ganzen Gestalt vor meinem geistigen Auge. Ein vertrautes und befremdliches Gefühl zu gleich. Wer war er?
Und vor allem, was wollte er wirklich von mir? Und zu guter Letzt, war er nun Wirklichkeit, oder gehörte ich schnellstens in eine Klinik damit meine neurotische und schizophrene Persönlichkeitsspaltung behandelt wurde? Der Gedanke machte mir Angst. Erschrocken riss ich die Augen auf, stutzte für einen Moment über das Gefühl, das unerwartet durch meinen Körper fuhr und sah mich erschrocken um. Ich fühlte mich auf seltsame Weise beobachtet und zog den Duschvorhang dichter zu. Der nächste Griff galt dem Waschgel. Eingeschäumt, abgeduscht und mich wieder frisch fühlend, schaltete ich endlich das warme Wasser aus. Ich schnappte mir mein Handtuch und wickelte es provisorisch um meinen Brustkorb. Der große Spiegel über dem Waschbecken war beschlagen. Im Badezimmer dampfte es wie in einem türkischen Hamam. Es war mir, als läge der Nebel aus den Träumen der letzten Nacht plötzlich in meiner Wohnung. Und wieder war da dieses seltsame Gefühl, dass ich nicht alleine war. Als wäre jemand ganz nah hinter mir. Spürbar nah! Ich wandte mich blitzschnell um. Doch da war niemand. Kopfschüttelnd griff ich nach einem weiteren Handtuch und wollte gerade über den Spiegel reiben, als sich dort ganz verschwommen und schemenhaft ein Schatten auftat. Ich stolperte erschrocken einen Schritt zurück. Ein Schrei entwich meiner Kehle.
Was in Gottes Namen ist das nun wieder?
Gebannt blickte ich auf das beschlagene Glas. Langsam bildete sich aus dem Fleck eine Gestalt, die sich langsam näherte, Schritt für Schritt, als gäbe es hinter dem Spiegel noch eine andere Welt. Ich blinzelte und traute meinen Augen nicht.
Das gibt es doch nicht.
Das ist doch der Kerl von letzte Nacht. Der Mann aus meinem Traum. Meine linke Hand klammerte sich an eine der silbernen Stangen, wo sonst die Handtücher hingen. Ich blickte in das Gesicht meines angeblichen Vaters und schüttelte den Kopf.
„Geh weg, du bist nicht da.“ Stotterte ich nervös. „Verschwinde endlich. Dieser Albtraum muss doch endlich mal ein Ende haben.“
Trotz meiner Unbehaglichkeit verspürte ich bei seinem Anblick jedoch keine tiefer gehende Angst. Ich hörte durch das verschmierte und immer noch beschlagene Glas eine Stimme dringen: „Halte dich von Lionel fern. Er wird keine Ruhe geben, bis er hat, wonach er sucht.“
Ich beugte den Kopf ein wenig vor und betrachtete die kleine Gestalt hinter der Scheibe. Glauben konnte man das alles hier nicht. Und verstehen ebenfalls nicht. Alles war plastisch und unrealistisch. Es erinnerte mich an Lewis Carrolls: Alice im Wunderland und das Kaninchen hinter dem Spiegel.
„Ja,“ flüsterte ich. Ganz bestimmt. Er hatte Recht. Ich sollte mich schützen. Und zwar vor Lionel, mein neuer imaginärer Freund. Aber vielleicht bin ich auch das krasse Gegenteil von
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