1682 - Das Blutschiff
Jetzt war Kathy Lester schon fast achtzig Jahre alt geworden. Sie gehörte zu den Menschen, deren Leben in dem kleinen Küstenort zwar nach festen Regeln ablief, die aber auch ihre Probleme hatte. Je älter sie wurde, umso schlechter konnte sie schlafen. Immer wieder wachte sie in den Nächten auf, lag dann hellwach im Bett, lauschte irgendwelchen Geräuschen oder ging in ein anderes Zimmer, um sich dort zu beschäftigen.
So war es auch mal wieder in dieser Nacht, die einen sehr warmen Tag abgelöst hatte. Die alte Frau hatte sogar am späten Abend darüber nachgedacht, sich nicht hinzulegen und die Stunden vor der Glatze zu verbringen. Dann hatte sie es sich anders überlegt und sich in den breiten Ohrensessel gesetzt, der schräg vor dem Fenster stand. Dieser Platz ermöglichte ihr einen Blick aufs Meer, das sie seit ihrer Kindheit kannte. Sie mochte es mit allen seinen Vor- und Nachteilen, und sie hatte sich immer gewünscht, dass es dieser Blick sein sollte, den sie als letzten in ihrem Leben mit auf die lange Reise ins Jenseits nehmen wollte.
Kathy Lester bewohnte die Räume in der unteren Etage des kleinen Hauses. Oben lebte ihr Sohn mit der Schwiegertochter und dem Jungen, der auch schon fast erwachsen war.
Kathy fühlte sich hier wohl. Sie war zwar nicht in dem kleinen Fischerort aufgewachsen, aber schon sehr früh hierher gezogen. Ihr Mann hatte hier gelebt und als Fischer gearbeitet. Mit der Fischerei lief es längst nicht mehr so gut: Es gab nur noch wenige Bewohner, die hinausfuhren, um Fische zu fangen. Die meisten Männer hatten andere Jobs in den modernen Industrien, die sich in der weiten Umgebung angesiedelt hatten.
Das wusste Kathy. Darüber machte sie sich keine Gedanken. Das war nicht mehr ihr Ding. Die kurze Zeit, die sie noch zu leben hatte, wollte sie so gut wie möglich verbringen, bevor sie dann ihren letzten Weg antrat.
In dieser Nacht Wachte sie auf, als es noch dunkel war. Etwas steif war sie geworden und sie rieb ihre Augen, um den Schlafsand herauszuwischen. Danach stand sie auf, schaffte ein paar unbeholfene Kniebeugen und war glücklich darüber. Ihr Mund war trocken. Dagegen gab es nur ein Mittel. Einen kräftigen Schluck Wasser. Sie ging ohne Licht zu machen in die Küche und hatte zuvor noch einen Blick durch das Fenster zum Strand hin geworfen. Ihr war der Küstennebel aufgefallen, der dort eine graue Wand gebildet hatte.
Neu war ihr dieses Phänomen nicht. Es kam öfter im Sommer vor, der Nebel war plötzlich da und verschwand ebenso schnell, wie er gekommen war. In der Küche ließ sie Wasser in ein Glas laufen. Dann ging sie wieder zurück. Aus den oberen Räumen hörte sie kein Geräusch. Die Familie schlief tief und fest. Ihr Sohn hatte eine Woche Urlaub nehmen müssen, weil in seiner Firma kurzgearbeitet wurde. Angeblich nur für eine kurze Zeit, bis im Hafen wieder mehr zu tun war und die Containerschiffe beladen werden konnten.
Der bequeme Sessel wartete auf sie. Davor stand ein Hocker, auf den sie ihre Füße legen konnte. Sie gähnte einige Male, ohne wirklich müde zu sein. Das Wasser trank sie in kleinen Schlucken und dachte daran, eine Zigarette zu rauchen. Es war ihr kleines Laster. Am Tag drei, vier Glimmstängel, daran hatte sie ihre große Freude. Aber Kathy Lester war zu faul, die Packung zu holen. Sie blieb sitzen, schaute durch das Fenster auf den Nebelstreifen und schüttelte plötzlich den Kopf. Etwas stimmte nicht!
Und zwar mit diesem hellgrauen Küstennebel, denn was sie nun zu sehen bekam, das war schon mehr als seltsam.
Der Nebel lag da wie fett, hätte ihr Enkel gesagt. Aber er bewegte sich trotzdem, und das geschah in seinem Innern.
Seltsam…
Für Kathy Lester war das zwar kein Phänomen, aber es machte sie schon misstrauisch, denn das war ihr neu. Ihre Augen waren noch gut, und so brauchte sie keine Brille, um den Vorgang weiterhin zu beobachten.
Ja, es stimmte.
Im Nebel steckte etwas und bewegte sich. Etwas Großes, das Ähnlichkeit mit einem Schiff hatte. Sie glaubte sogar, ein Segel zu erkennen, aber sicher war sie sich nicht. Die alte Frau wartete weiter. Sie hörte ihren Herzschlag und etwas in ihr warnte sie, dass das, was sie sah, nicht mit rechten Dingen zuging. Auch als zwei weitere Minuten vergangen waren, hatte sie keine Veränderung erkennen können. Sie ging davon aus, dass es ein Schiff war, das sich in der grauen Suppe verborgen hielt. Und ihr schoss der Begriff Geisterschiff durch den Kopf. Okay, hier im Ort gab es einen
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