Sarah Boils Bluterbe (German Edition)
multipler Persönlichkeit. In mir wohnen keine zwei einander fremden Menschen, dafür projiziere ich sie in meine Außenwelt. Auch nicht schlecht.
Ich begann mit dem Handtuch über den Spiegel zu scheuern, als könnte man das Bild einfach wegradieren. Ich weiß nicht, wie lange und intensiv ich das Glas noch polierte, obwohl die Gestalt längst weg war. Irgendwann verließ ich völlig geistesabwesend das Bad. Ich schlenderte in die Küche, griff nach dem Stapel Briefe, setzte mich an den Bartisch und öffnete einen nach dem anderen. Die üblichen Werbebriefe, die täglich einflatterten stapelte ich sofort auf einen Haufen für das Altpapier. Zuletzt hielt ich einen grauen Umschlag in der Hand. Vorne prangte mein Name in kleinen, säuberlich geschriebenen Buchstaben. Ich zog eine ebenso graue Karte aus dem Umschlag heraus und schaute verwundert auf die Aufmachung. Schlicht und ohne jegliche Verzierung. Ein mit schwarzer Tinte geschriebener Text ließ langsam aber sicher eine tödliche Wut in mir aufsteigen.
Mein Benehmen gestern war unverzeihlich. Dieses Verhalten ist nicht zu entschuldigen. Seit über 600 Jahren habe ich die volle Kontrolle über das Tier in mir. Ich weis nicht, was mit mir gerade passiert. Du musst der Schlüssel dazu sein. So etwas wird jedoch nicht mehr vorkommen. Sehen uns am Abend.
Lionel
Ich faltete sofort die Karte zurück in den Umschlag, lief ins Wohnzimmer und versteckte sie hektisch in meiner alten Fotokiste.
Jetzt bist du zu weit gegangen Bursche.
Lionel musste verrückt geworden sein. Schließlich hätte auch Martin die Post in die Finger bekommen können. Verdammter Spinner. Ich werde ihn das nächste Mal einfach umbringen. Ach ja, einen Holzpflock brauche ich dann ja wohl. Aber wo bekomme ich den bloß her? Und benutzt man die Teile wirklich gegen Vampire? Vermutlich schon. Ich konnte doch schlecht in den Baumarkt gehen, und fragen, hey, wo liegen denn hier die angespitzten Holzpflöcke, oder haben sie sonst noch irgendein Insektenspray gegen Vampire? Ich war verloren, ganz klar. Ich hätte meine Mutter anrufen können, aber ich wollte sie nicht tiefer mit hineinziehen, als unbedingt nötig. Davon abgesehen, wusste ich immer noch nicht, ob alles, was hier geschah, real war. Ich sprang erneut auf, und holte noch einmal die Karte aus dem Pappkarton. Sie fühlte sich echt an. Sie sah echt aus. Also musste ich mich in der unzweifelhaften Realität befinden. Dann viel es mir wie Schuppen von den Augen. Was war, wenn ich wirklich multipel war und die Zeilen an mich selbst geschrieben hatte? Mir lief ein Schauder über den Rücken. Der Klingelton meines Handys riss mich aus meinen Gedanken. Ich stolperte durch den Flur und riss dabei meine afrikanischen Holzfiguren um, die auf dem Boden gleich neben der Wand standen.
„Ja, Mertens.“ Hechelte ich und rieb mir ächzend über mein Schienbein.
„Hey, ich bin`s. Mary. Was stöhnst du denn so? Stör ich gerade?“ Ich konnte ihr selten hämisch Grinsen genau vor mir sehen. Ich schüttelte den Kopf, wobei mir einfiel, dass sie mich gar nicht sehen konnte.
„Nein, ich hab diese dämlichen Geistervertreiber aus Afrika gerade umgerannt.“
„Na, wenn`s nur das ist. Geht es dir ansonsten besser?“
Ich konnte Marys Belustigung durch das Handy anhand ihrer Stimme hören und erwiderte: „Nein, nicht wirklich. Aber ich brauche dich jetzt. Kann ich zu dir rüber kommen?“
Mary willigte sofort ein und tat gleich ihre Freude kund. Ich machte mich in Windeseile fertig und brauste wenige Augenblicke später los. Nach einer halben Stunde saß ich wie eingefalteter Schmetterling auf ihrem Sofa und starrte sie nach meiner Beichte erwartungsvoll an. Mary zog die Augenbrauen hoch und lugte durch ihre rote, glänzende Brille. Sie verdrehte die Pupillen und kräuselte die Lippen, als wollte sie just in diesem Moment einen Fisch knutschen. Ein quietschendes und schnalzendes Geräusch quäkte durch ihre Zähne.
„Sag mal, Spaß beiseite, nimmst du Drogen? Ich meine, rede doch mit mir. Oder hat Martin dir irgendwas getan?“
Ich seufzte, es klang alles auch wirklich zu verrückt. Wieso sollte sie mir auch glauben schenken. Es klang nicht nur verrückt, es war verrückt.
„Nein Mary, nein. Hör mir bitte zu. Das ist kein Traum, ich nehme keine Drogen, und Martin weiß von alledem nichts. Verdammt glaub mir doch. Entweder ich bin völlig geistig gestört oder die Welt ist wirklich ein merkwürdiger Planet. Ich war heute morgen im Studio und wenn
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