Sarahs Moerder
saß auf dem Sofa, etwas zu mir gebeugt, ab und zu zuckte die Schulter, das war dieser Tick.
»Ja«, sagte ich, »das konnte man nicht wissen.«
Dass man sie vielleicht hätte retten können, wenn jemand da gewesen wäre, sagte ich nicht. Keine Ahnung, ob das richtig oder falsch war, ich dachte aber, dass das den Schmerz noch schlimmer gemacht hätte.
»Hörst du?«, sagte er zu seiner Frau. »Niemand hat unsere Tochter umgebracht.«
Sarahs Mutter machte immer noch dieses Geräusch mit den Zähnen. Seine Schulter zuckte schlimmer.
»Also war es Schicksal«, sagte er zu mir.
»Ich muss weiterspülen«, sagte sie. Sie stand auf und ging in die Küche.
Er blieb sitzen, sein Blick ging ins Leere. Ich hatte den Eindruck, dass seine Augen feucht wurden.
»Und jetzt?«, fragte er.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
Man hörte in der Küche Glas zerbrechen. Er stand auf und lief hin, um nachzuschauen. Ich wusste nicht, ob ich ihm folgen sollte.
Aus der Küche kamen Stimmen.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Mir ist ein Glas kaputtgegangen«, sagte sie.
»Hast du dir wehgetan?«
»Nein.«
»Du hast Blut an der Hand.«
»Es ist nichts.«
»Ich hole Desinfektionsmittel.«
»Es ist nichts.«
»Das blutet ja noch, halt still.«
Er kam zurück ins Wohnzimmer.
»Meine Frau hat sich an der Hand verletzt.«
»Kann ich helfen?«
»Nein, es geht. Aber ich muss Sie jetzt verabschieden.«
»Natürlich. Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen.«
Auf dem Treppenabsatz blieb ich einen Augenblick lang stehen und atmete tief durch, weil ich keine Luft bekam. Während ich so dastand, lief es mir kalt den Rücken runter, als ob plötzlich jemand rauskommen, sich auf mich stürzen und ohne Grund umbringen könnte. Das war vollkommen idiotisch, aber so kam es mir vor. Als ich die Treppe runterging, fiel mir auf, dass die Katze nicht mehr im Flur war.
Bevor ich rausging, warf ich einen Blick dorthin, wo ich Sarah gefunden hatte. Ich wollte was hinlegen, eine Blume, ein Gedicht, irgendein Zeichen. Dann ließ ich es bleiben, es hätte ja nichts geändert.
Draußen auf der Straße wurde es dunkel.
Ich drehte mich nochmal nach dem Haus um. Hinter den Fenstern sah man den weißen Schimmer der Lampen oder das Blau der Fernseher. Ab und zu einen Schatten. Ein Licht, das an- und ausging. Irgendwann kam es mir so vor, als ob ein Mann hinter einem Fenster hervorspähte.
Ich fühlte, dass mir die Luft nicht mehr durch die Lungen strömte, irgendwas dort nahm mir den Atem, als ob mein Hals in einem Schraubstock steckte, der mich würgte.
»Wenn einer rausgegangen wäre, um ihr zu helfen«, schrie ich, »hätte sie gerettet werden können. Ihr hattet Angst. Feiglinge!«
Das Rollo an dem Fenster, hinter dem einer stand, ging runter.
»Elende Feiglinge«, sagte ich leise und ging weg, aber irgendwas ließ mir keine Ruhe.
27.
Der Kran hob den Sarg in die Luft und ließ ihn hoch über uns schweben, so als wollte er, dass Sarah die Welt zum letzten Mal von oben sah. Ihre Eltern, Verwandte und andere, die ich nicht kannte, standen ringsum, aber es war so, als würde ich keinen sehen und nicht verstehen, was passierte.
Dann wurde der Sarg runtergelassen.
Unten in der Grube ließ der Kran ihn los, und der Sarg schlug dumpf auf den Boden. Sarahs Mutter wandte den Blick ab, schlug eine Hand vor den Mund und zwang sich, nicht zu weinen. Ihr Mann stützte sich auf ihre Schulter, als ob er sich allein nicht auf den Beinen halten könnte. Dann fing er sich wieder, nahm einen Blumenstrauß und warf ihn in die Grube. Zehn Meter weiter, etwas abseits, sah ich den Anwalt Santoro und den Lehrer stehen.
Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich wusste nicht mal, warum ich überhaupt zu der Beerdigung gekommen war.
Oder vielleicht doch.
Ich war hier, weil so kannst du nicht leben – so tun, als ob du nicht verstehst, was um dich rum passiert. Genau das hatte ich bis jetzt immer gemacht. Mich nur um meinen Kram gekümmert. Um sonst nichts. Als ob alles andere nicht da wäre.
Inzwischen war der Himmel dunkel geworden. Vom Meer zogen schwarze Wolken auf, von kaltem Wind getrieben. Gleich regnete es, die Hitze war vorbei.
Ein Mann mit Schippe und schmutzigen, am Knie zerrissenen Trainingshosen wartete auf den Befehl, die Grube zuzuschaufeln.
Ich blieb einen Moment lang unsicher stehen, dann entschied ich mich hinzugehen. Ich nahm eine Handvoll Erde und warf sie ins Grab. Sarahs Mutter sah mich. Wir schauten uns schweigend an. Sie
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