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Sarg niemals nie

Sarg niemals nie

Titel: Sarg niemals nie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Wells
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Morgen
    Kurz nach dem Morgengrauen trafen wir in London ein. Ich zog die Vorhänge der Kutsche zur Seite und starrte hinaus, als wir an hohen Gebäuden und Schwärmen verzweifelter, frierender Menschen vorbeifuhren. Zerlumpte Männer und Frauen huschten stumm durch die Straßen, die Köpfe gesenkt, die Hände in den Taschen dicker Wollmäntel vergraben. Über allem lag wie eine Decke der Rauch aus den Fabriken. Auf den Gehwegen und Straßen mischte sich Asche mit Unrat und verhieß einen weiteren Winter voll schmutzigen schwarzen Schnees.
    »Ist das nicht wundervoll trist?«, fragte John lächelnd, der zusammen mit mir die groteske Szene betrachtete.
    »Trist vielleicht, aber ich kann nicht behaupten, einen solchen Anblick je vermisst zu haben.«
    »Wäre der Erdboden eine Frau, ich wäre längst hinausgesprungen, um sie zu küssen.«
    »Dabei könntest du dir wer weiß was einfangen.«
    »Was zählt, ist einzig das Verlangen. Außerdem könnte ich mich im Handumdrehen heilen. Vergiss nicht, dass ich Wundarzt bin. Ein wenig Schmutz und Schmand am Straßenrand soll mich nicht schrecken. Das nennt manübrigens eine Alliteration: Schmutz und Schmand am Straßenrand.«
    »Ja, du bist ein wahrer Meister«, räumte ich geistesabwesend ein und lehnte mich wieder zurück. »Wann erreichen wir diesen Pub, den du so gelobt hast? Ich werde umso unruhiger, je länger es dauert.«
    »Man reist nicht schneller, wenn man ewig auf das Ziel nur lauert.«
    Ich grunzte nur und zog mir eine der Pferdedecken enger um die Schultern. In der Stadt war es viel kälter als draußen auf dem Land. Vielleicht lag es daran, dass der Rauch das Sonnenlicht trübte. Es dauerte nicht lange, da hielt die Kutsche an, und durch die Scheibe erblickte ich einen schmierigen alten Pub. Auf dem großen Schild am Giebel stand tatsächlich Krötenloch , und aus der dunklen, offenen Tür schlug uns ein bedrückendes, lastendes Schweigen entgegen.
    »Ich dachte, wir seien noch längst nicht da.«
    »Weil du nichts gesagt hast, worauf sich der Satz Wir sind gleich da gereimt hätte.«
    John beugte sich vor und entriegelte die Tür, stieß sie auf und sprang mit einer einzigen raschen Bewegung hinaus. Ich zuckte zurück, aus Angst, einen verirrten Stiefel ins Gesicht zu bekommen. Sobald er auf dem Gehweg stand, streckte er sich ausgiebig, und da kein Wind wehte, hing seine zerlumpte Kleidung schlaff an ihm hinunter. Er war viel kleiner, als ich vermutet hätte, denn bisher hatte ich ihn nur sitzend gesehen. Durch die offene Tür der Kutsche wehte ein übler Gestank von Rauch herein. Angewidert runzelte ich die Stirn.
    »Was denkst du dir dabei, einfach so die Tür zu öffnen?«, flüsterte ich aufgeregt und raffte eilig die Deckenzusammen. »Wenn mich nun jemand gesehen hätte? Wenn ein Wachtmeister vorbeigekommen wäre? Und sollte dieser Pub nicht der beste in ganz England sein? Ich habe stattdessen das Gefühl, als sollte ich den Bau der größten menschenfressenden Spinne betreten.«
    Noch während ich sprach, wehte mir jedoch ein Duft von Bratwürsten entgegen, und ich hielt erstaunt inne. Es war der köstliche, aber höchst flüchtige Duft jener Sorte von Würstchen, von denen man nur träumt, die man aber nie aufgetischt bekommt. Wieder stieg mir der Geruch in die Nase, stärker als zuvor und in Begleitung beliebter Beilagen: pochierter Eier, warmer Butter, gestampfter Kartoffeln und gebratenen Specks. Ich entdeckte sogar einen Hauch von Starkbier und frischer, kalter Milch, obwohl ich schwören kann, dass ich solche Gerüche weder vorher noch nachher je auf solche Entfernung wahrgenommen habe.
    »Du riechst es, nicht wahr?«, fragte John listig.
    »Es riecht sehr gut.«
    »Die Londoner Riesenspinnen speisen vortrefflich.«
    »So kommt es mir vor.«
    »Willst du nun aussteigen?«
    »Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, oder?«
    »Richtig, es ist unvermeidlich.«
    Ich wickelte mich fest in die Decke und stieg aus der Kutsche. Wieder nahm ich den üppigen und köstlichen Duft saftiger Würstchen wahr, der aus dem Krötenloch herüberwehte. Uns lief das Wasser im Mund zusammen, und wir freuten uns auf das reichhaltige Frühstück. John rief dem Wirt zu, er solle zwei große Teller füllen, und bugsierte mich im hinteren Teil des Schankraums zu einem Tisch, an dem schon jemand saß.
    »Wie wollen wir dafür bezahlen?«, fragte ich. »Ich habe kein Geld.«
    »Ich auch nicht, aber dieser stattliche Mann mit der Wollweste ist mir etwas

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