Sarrasine (German Edition)
Lauty einen marokkanischen Palast geplündert hätte, seine Tochter nähme ich doch zur Frau!« rief ein Philosoph.
Wer hätte Marianina nicht zur Frau genommen, dieses sechzehnjährige Mädchen, dessen Schönheit die phantastischen Märchen der orientalischen Dichter zur Wirklichkeit machte! Sie hätte wie die Sultanstochter in dem Märchen von der Wunderlampe verschleiert bleiben dürfen. Ihr Gesang drängte unvollkommene Talente wie die Malibran, die Sonntag oder Fodor in den Hintergrund, bei denen eine Eigenschaft immer hervorsticht und so die Vollkommenheit des Ganzen unmöglich macht, während Marianina Reinheit des Tons, Empfindung, Korrektheit der Stimmführung und der Intonation, Seele und Technik, Kunst und Natur in gleich hohem Maße vereinigte. Das Mädchen war das Urbild der geheimen Poesie, die das einigende Band aller Künste ist und sich stets denen entzieht, die sie suchen. Marianina war sanft und bescheiden, gebildet und seelenhaft, und nichts konnte sie in den Schatten stellen – außer ihrer Mutter. Seid ihr je einer von den Frauen begegnet, deren sieghafte Schönheit dem Ansturm der Jahre trotzt und die mit sechsunddreißig Jahren noch begehrenswerter scheinen, als sie es vielleicht fünfzehn Jahre früher waren? Ihr Antlitz ist eine glühende Seele; es sprüht und strahlt; jeder Zug auf ihm verrät den Geist; aus jeder Pore scheint, besonders beim Licht der Kerzen, ein besonderer Glanz zu dringen. Ihre bezaubernden Augen locken oder weisen ab, sprechen oder schweigen; ihr Gang ist unschuldsvolles Wissen; aus ihrer Stimme bricht der melodische Reichtum von Tönen, die in ihrer sanften Anmut unbeschreiblich verführerisch sind. Ihr Lob, das auf Vergleiche gegründet ist, schmeichelt dem empfindlichsten Stolze. Ein Zucken ihrer Brauen, der unmerklichste Blick, ein Aufwerfen ihrer Lippen, die geringste Bewegung dieser Art macht Männern bange, die diesen Frauen ihr Leben und ihr Glück geweiht haben. Ein junges Mädchen, das keine Erfahrung in der Liebe hat und sich beschwatzen läßt, kann verführt werden; aber für diese Art Frauen muß ein Mann, wie Herr von Jaucourt, lernen, nicht zu schreien, wenn ihm die Zofe, die ihn eiligst in einem Nebengemach verbirgt, mit der Tür, die sie zuwirft, zwei Finger der Hand zerquetscht. Wer diese gefährlichen Sirenen liebt, setzt der nicht sein Leben aufs Spiel? Eben darum lieben wir sie ja vielleicht so glühend! So war die Gräfin von Lauty.
Filippo, Marianinas Bruder, hatte, wie seine Schwester, die Schönheit der Gräfin geerbt. Der junge Mann war, mit einem Wort gesagt, das lebende Bild des Antinous, nur daß er schlanker war. Aber wie gut paßt diese Hagerkeit und Zartheit zur Jugend, wenn ein olivenfarbener Teint, buschige Brauen und der samtene Glanz eines feurigen Auges für die Zukunft die Glut des Mannes und ein edles Herz versprechen! So war Filippo im Herzen der jungen Mädchen wie ein Ideal, und zugleich lebte er im Gedächtnis der Mütter als die beste Partie in ganz Frankreich.
Die Schönheit, die Anmut, der Reiz und der Geist dieser beiden Kinder kamen ganz und gar von ihrer Mutter. Der Graf von Lauty war klein, häßlich und pockennarbig, düster wie ein Spanier und langweilig wie ein Bankier. Er galt übrigens als großer Politiker, vielleicht weil er selten lachte und oft Herrn von Metternich oder Wellington zitierte.
Diese geheimnisvolle Familie hatte den ganzen Reiz einer Dichtung von Lord Byron, deren Dunkelheit von jedem Mitglied der Gesellschaft anders gedeutet wurde: ein schwer verständlicher Gesang, der in jeder Strophe herrlich war. Die Zurückhaltung, die Herr und Frau von Lauty über ihren Ursprung, ihre Vergangenheit und ihre Beziehungen zu den vier Weltteilen bewahrten, hätte an sich in Paris nicht lange ein Gegenstand des Staunens zu sein brauchen. In keinem Lande vielleicht wird der Ausspruch Vespasians besser verstanden. Hier verrät das Geld, selbst wenn es mit Blut oder Schmutz befleckt ist, nichts und vertritt alles. Wenn die vornehme Welt nur die Ziffer deines Vermögens kennt, dann rangierst du unter den Summen, die dir ebenbürtig sind, und kein Mensch fragt dich nach deinen Pergamenten, weil jeder weiß, wie wenig sie kosten. In einer Stadt, in der die sozialen Fragen mit Hilfe von algebraischen Gleichungen gelöst werden, haben Abenteurer vortreffliche Aussichten. Selbst wenn man annahm, daß diese Familie zu den Zigeunern gehörte, konnte ihr die vornehme Welt um ihres Reichtums und ihrer Vorzüge willen
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