Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sarrasine (German Edition)

Sarrasine (German Edition)

Titel: Sarrasine (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
Vom Netzwerk:
dem er dann plötzlich, wie verstohlen, unerwartet entstieg, um gleich den Feen aus alten Zeiten, die auf ihren fliegenden Drachen angeritten kamen und die Feste störten, zu denen sie nicht eingeladen waren, mit einem Male mitten in den Gemächern zu erscheinen. Auch geübtere Beobachter konnten die Unruhe der Hausbewohner, die ihre Gefühle mit bemerkenswerter Geschicklichkeit zu verbergen verstanden, nur erraten. Aber manchmal warf Marianina, die noch zu naiv war, während sie in einer Quadrille tanzte, einen ängstlichen Blick auf den Alten, den sie aus all den Gruppen herausfand. Oder Filippo schlängelte sich rasch durch die Menge, um zu ihm zu eilen, blieb bei ihm und schien zart und behutsam für ihn zu sorgen, wie wenn die Berührung mit den Menschen oder der leiseste Hauch das sonderbare Wesen zerbrechen könnte. Die Gräfin suchte sich ihm zu nähern, ohne daß es den Anschein haben sollte, als ob sie ihn aufgesucht hätte; dann nahm sie eine Haltung und einen Ausdruck an, in denen ebensoviel Demut wie Zärtlichkeit, Unterwürfigkeit wie Tyrannei lag, und sprach ein paar Worte zu ihm, denen sich der Alte fast immer fügte: sie führte, oder besser gesagt, schleppte ihn fort, und er war verschwunden. Wenn Frau von Lauty nicht da war, bot der Graf eine Menge Kriegslisten auf, um an ihn heranzukommen; aber auf ihn schien der Alte nicht recht zu hören, und der Graf behandelte ihn wie ein verzogenes Kind, dessen Launen die Mutter nachgibt oder dessen Unarten sie fürchtet. Als einige Indiskrete sich herausgenommen hatten, den Grafen von Lauty keck auszufragen, machte der kühle und zurückhaltende Mann den Eindruck, als ob er von den Fragen der Neugierigen nichts verstünde. Daher bemühte sich denn auch nach so vielen Versuchen, die die Vorsicht aller Glieder dieser Familie vereitelt hatte, niemand mehr, hinter dieses Geheimnis, das so wohl behütet war, zu kommen. Die Salonspione, Aufpasser und Diplomaten waren schließlich des Kampfes müde und hatten es aufgegeben, sich mit dem Geheimnis zu beschäftigen. Aber trotzdem gab es vielleicht in diesem Augenblick in den strahlenden Gemächern Philosophen, die, während sie ein Eis, ein Sorbett nahmen oder ihr leeres Punschglas wegstellten, unter sich sagten: »Ich würde mich nicht wundern, wenn ich hörte, daß diese Leute Spitzbuben sind. Dieser Alte, der sich verborgen hält und nur zur Tag-und-Nacht-Gleiche oder zur Sonnenwende auftaucht, sieht mir ganz wie ein Mörder aus...« »Oder wie ein Bankrottierer...« »Das ist kein großer Unterschied. Einem Menschen das Vermögen rauben ist oft schlimmer, als ihm das Leben nehmen.« »Hören Sie, ich habe zwanzig Louisdor gesetzt, ich muß vierzig bekommen!« »Ja, was hilfts, es liegen doch nur dreißig im Spiel.« »Da sehen Sie, was hier für eine gemischte Gesellschaft ist. Man kann nicht einmal spielen.« »Ganz richtig... Aber nun ist es schon bald ein halbes Jahr her, daß wir den großen Geist nicht gesehen haben. Glauben Sie, daß er ein lebendiges Wesen ist?« »Ja... höchstens...«
    Diese Worte wurden in meiner Nähe von Unbekannten gesprochen, die in dem Augenblick weggingen, wo ich eben meine Betrachtungen, die aus Schwarz und Weiß, aus Leben und Tod gemischt waren, in einem letzten Bilde zusammenfassen wollte. Meine überspannte Phantasie sah, ebenso wie es meine Augen taten, abwechselnd auf das Fest, das jetzt auf dem Gipfel seines Glanzes angelangt war, und auf das düstere Bild der Gärten. Ich weiß nicht, wie lange ich über diese beiden Seiten der Medaille des Menschenlebens grübelte; plötzlich jedoch weckte mich das unterdrückte Lachen einer jungen Dame. Ich war bei dem Anblick des Bildes, das sich meinen Augen bot, sprachlos. Wie durch eine Laune der Natur schien das Bild der Halbtrauer, das ich im Hirn gewälzt hatte, daraus entsprungen zu sein und nun leibhaft vor mir zu stehen, wie Minerva groß und stark dem Haupte Jupiters entstieg; es schien zu gleicher Zeit hundert Jahre und zweiundzwanzig Jahre alt zu sein, war tot und lebendig auf einmal. Der kleine Alte schien, wie ein Geisteskranker aus seiner Zelle, aus seinem Zimmer ausgebrochen zu sein und hatte sich offenbar hinter einer lebendigen Hecke von Personen, welche aufmerksam dem Gesang Marianinas lauschten, die eben die Kavatine aus ›Tankred‹ zu Ende sang, geschickt herangeschlichen. Es machte den Eindruck, als ob er mit Hilfe einer Theatermaschinerie aus dem Boden gestiegen wäre. Er stand starr und düster da und schaute

Weitere Kostenlose Bücher