Sarrasine (German Edition)
eine Stelle aus Thukydides erklärte, machte er eine Skizze vom Mathematiklehrer, vom Präfekten, von den Dienern, vom Zuchtmeister und verschmierte alle Wände mit unförmlichen Entwürfen. Anstatt in der Kirche das Lob des Herrn zu singen, vergnügte er sich während des Meßamtes damit, an einer Bank zu schnitzeln oder, wenn es ihm gelungen war, ein Stück Holz zu erwischen, die Gestalt eines Heiligen zu schnitzen. Wenn er kein Holz, keinen Stein oder Bleistift hatte, modellierte er seine Einfälle aus weichem Brot. Ob er nun die Gestalten auf den Bildern kopierte, mit denen der Chor geschmückt war, oder ob er improvisierte, immer hinterließ er auf seinem Platz gröbliche Skizzen, deren freche Unverhülltheit die jüngeren ehrwürdigen Väter zur Verzweiflung brachte; und böse Zungen behaupteten, daß die älteren Jesuiten darüber lächelten. Endlich wurde er, wenn man der Chronik des Kollegs Glauben schenken darf, davongejagt, weil er, um sich an einem Karfreitag, als er wartete, bis er zum Beichten darankam, die Zeit zu vertreiben, aus einem großen Scheit Holz einen Christus geschnitzt hatte. Die Gottlosigkeit, die in dieser Statue zum Ausdruck kam, war zu groß, dem Künstler keine Züchtigung zuzuziehen. Hatte er nicht die Frechheit gehabt, diese recht zynische Figur auf das Tabernakel zu stellen? Sarrasine begab sich nach Paris, um den Drohungen der väterlichen Ver- fluchung zu entrinnen. Er hatte einen starken Willen, einen von denen, die kein Hindernis kennen; er gehorchte dem Befehl seines Genies und trat in das Atelier Bouchardons ein. Er arbeitete den ganzen Tag und ging abends betteln, um seinen Unterhalt zu finden. Bouchardon, der über die Fortschritte und den Geist des jungen Künstlers entzückt war, erriet bald, in welchem Elend sein Schüler sich befand; er unterstützte ihn, gewann ihn lieb und behandelte ihn wie sein eigenes Kind. Als sich dann das Genie Sarrasines in einem der Werke offenbart hatte, in denen das künftige Talent noch gegen die hitzige Gärung der Jugend kämpft, versuchte der wackere Bouchardon, ihn wieder mit seinem Vater zu versöhnen. Vor der Autorität des berühmten Bildhauers besänftigte sich der Zorn des Vaters. Ganz Besançon beglückwünschte sich, daß es die Geburtsstadt eines großen Mannes der Zukunft war. Im ersten Augenblick der Begeisterung, in die seine geschmeichelte Eitelkeit den geizigen Sachwalter versetzte, gab er seinem Sohne die Mittel, anständig in der Welt auftreten zu können. Die langen und mühsamen Studien, die für die Bildhauerei nötig sind, zügelten das stürmische Naturell und den heftigen Charakter Sarrasines für lange Zeit. Bouchardon, der ahnen mochte, mit welcher Heftigkeit die Leidenschaften in dieser jungen Seele kochten, die vielleicht eine so gewaltsame Natur hatte wie Michelangelo, erstickte ihre Wildheit unter unablässigem Arbeiten. Es gelang ihm, die ungewöhnliche Heftigkeit, die in Sarrasine lebte, in die rechten Schranken zu zwingen, indem er ihm zu arbeiten verbot und ihn anhielt, sich zu zerstreuen, wenn er sah, wie das Feuer eines Gedankens ihn fast außer sich brachte, oder indem er ihm wichtige Arbeiten übertrug, wenn er nahe daran war, sich einem wüsten Leben zu überlassen. Aber gegen diese glühende Seele war die Sanftmut immer die mächtigste Waffe, und der Meister erlangte vor allem dadurch große Gewalt über seinen Schüler, daß er durch väterliche Güte seine Dankbarkeit erregte.
Im Alter von zweiundzwanzig Jahren wurde Sarrasine durch die Umstände dem heilsamen Einfluß, den Bouchardon auf sein Wesen und seine Gewohnheiten ausübte, entzogen. Er erlangte den Lohn für sein Genie, indem er den Skulpturpreis gewann, den der Marquis von Marigny, der Bruder der Frau von Pompadour, der so viel für die Künste tat, gestiftet hatte. Diderot rühmte die Statue von Bouchardons Schüler als ein Meisterwerk. Nicht ohne tiefen Schmerz ließ der Bildhauer des Königs den jungen Mann nach Italien ziehen, dessen völlige Unerfahrenheit in allen Fragen des Lebens er absichtlich und aus Prinzip erhalten hatte. Sarrasine war sechs Jahre lang Bouchardons Tischgenosse gewesen. Er war ein Fanatiker der Kunst, wie es später Canova gewesen ist, stand mit Tagesanbruch auf, ging ins Atelier, verließ es erst, wenn es Nacht wurde, und lebte nur seiner Muse. Wenn er in die Comédie-Française ging, wurde er von seinem Meister hingeschleppt. Er fühlte sich bei Frau Geoffrin und in der vornehmen Welt, in die Bouchardon ihn
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