Satt Sauber Sicher
Roland beginnt ein stummes Weinen. Alle Schrecken der Kindheit sind wieder da. Roland hinten drauf auf Vaters klappriges Herrenrad und der Mutter und einem Essen entgegen. Da wird dann Schweigen sein. Oder Geschrei. Heimwärts geht es, der Traum endet an einer Straße, an der Roland sich und seinen Vater nur noch von hinten sieht, er heulend und sich festkrallend, während der Vater ein Lied summt.
Den Rest der Nacht verbringt Roland traumlos. Der Traum im Traum war zu realistisch. Das ist ja auch echt so passiert. Rolands Kopf ist zum Bersten mit Traumnachwehen und extremer Verwirrung gefüllt. Noch ein Fetzen Kleintraum und diverse Synapsenverbindungen Rolands würden einfach so auseinanderplatzen. Im Schlaf. Das Gehirn weggebombt vom eigenen Traumunwesen. Ein Krassdraufling riecht übrigens wie die Mischung aus unsauberer Toilette, Zahnfleischblut, ranziger Milch und Kotze. Traumgeruch vergehe. Verwehe. Lass nur beständig Realität walten. Rolands Kopf verarbeitet die Eindrücke. Das hat aber schon als Kind nicht geklappt. Aber die Güte des Schlafs weht zum Fenster herein und es kommt eine kleine Frische und die Benommenheit des Augenzufallens. Das geht ja immer irgendwie einfach so.
Das Aufwachen ist das Zaudern des Lebendigseins. Das Zögern der Existenz. Vielleicht wäre es schön, morgens nicht aufzuwachen, sondern einfach zu sterben ... "Kein Wille triumphiert" haben kürzlich Tocotronic auf ihrem aktuellen Album "Kapitulation" gesungen und das ist an vielen Morgen die reine Wahrheit. Kein Wille, leider auch nicht der eigene, kann einen bewegen.
Ein Morgen. Und wer so träumt, erwacht zerbrochen. Zu Recht. Roland schwitzt wie die Sau wegen der Ergriffenheit des Traumes. Er erkennt die Realität seiner Kindheit. Ihm wird ins Bewusstsein geprügelt von seiner eigenen, erhabenen, verkommenen Erkenntnis, dass er tausend Anzüge besitzen könnte, millionenfach Geld speichern könnte, mit absolut naturfreien Parfüms und Deodorants seinen Eigengeruch wegmachen könnte, er aber doch nie seine eigentliche Existenz würde verleugnen können. Niemals. Zu keinem Zeitpunkt kann das weg, woher er kommt. Das sitzt fest, ganz innen und kann nicht raus. Nicht durch gutes Essen und gutes Benehmen. Durch nichts.
Durch jede seiner scheiß Poren schießt seine Bäuerlichkeit. Grinst sein stinkender Kern nach außen. Ganz muffig, ganz simpel. Sein Gefühl, mehr sein zu wollen, als er kann, maßt sich an groß zu werden, schickt sich an zu protzen. Der Arbeitersohn Roland hat es bis zum Finanzarsch geschafft, allerdings ist das Opfer dafür seine Kindheit und seine Gesundheit ...
... und genau die will er heute checken lassen. Einen Spezialisten nur für mich, denkt der Roland so bei sich, den will er. Einen Universaluntersucher, der ein paar Tabletten verschreibt, ihn 'ne Woche krankschreibt und dann ist die Sache mit dem kaputten Leben wieder ok. Der Darm wieder intakt und vielleicht gibt es dann endlich auch wieder ein Liebesleben. Diese Hoffnung wohnt in Roland seit Vera. Das war die Letzte, die hier war und nicht dafür bezahlt wurde, dass sie sich freut, schlecht gefickt zu werden. Aber sie ging. Roland wurde Eis. War schon vorher Eis. Ließ sich selbst vereisen. Sturz in die Niederungen der Arbeit und ab und zu funkeln Veras Augen plötzlich in anderen Gesichtern (zum Beispiel in denen von Nutten) wieder auf und blicken vertraut oder vorwurfsvoll. Was aus ihr geworden ist, weiß Roland nicht, interessiert ihn auch nicht wirklich. Kein Hauch Vera blieb an den Wänden, kein Partikel Menschenseele an seiner Seele. Für so was Abstraktes wie Liebe war es damals schon zu spät. Roland schon zu weit im Sumpf aus Geld, Egoismus und Bratwurstbegünstigungen versunken.
Kleines Denken an die kleine Frau aus der Vergangenheit. Vera war schon wegen ihrer Arbeit ein Klumpen Eis. Sie war Schwester auf einer Intensivstation. Hat da die Toten der Zukunft zusammengeflickt, unlebbares Leben mobilisiert. Geholfen, bis ihnen nicht mehr zu helfen war. Aber sie war es doch, die sagte, Roland sei mit einer Kälte gesegnet, die sie nie zuvor erlebt hatte. Deswegen auch die Trennung, weil Liebe unter eine gewisse Temperatur eben nicht hinausgeht. Und kalt und kalt ergibt viel Scheiße, das kennt Roland ja noch von seinen Eltern.
Roland gets up. Ein wenig gelassener als gestern, obwohl das in ihm ganz komisch ist. Also komisch im Sinne von seltsam, nicht im Sinne von lustig.
Er steht heute auf, um sich untersuchen zu lassen. Nur das heute.
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