Satt Sauber Sicher
sichselbst um seinen Hygienezustand kümmern, was ihm ja eigentlich auch nur teilweise gelang.
Später am Vormittag, bevor die anderen Bewohner der Gruppe aus der Werkstatt zum Mittagessen kommen, geht Peter noch mit Kevin spazieren. Schiebt ihn durch die Stadt der Gaffer. Findet sich dabei ein wenig radikal. Liebe sogenannte gesunde Menschen mit relativ gesundem Menschenverstand, ich präsentiere euch die Essenz des Menschseins. So sind wir eigentlich gemeint. Die Leute gucken. Peter guckt auch. Kevin kackt, guckt, grinst, sabbert, alles geht an solchen Tagen. Der Körper funktioniert einwandfrei, nur kann das Gehirn seine Funktionen nicht mehr steuern. Die Leute denken Missgeburt, Sozialkosten, vergasen, süß, Freak, Ekel, Picasso und Mensch. Peter denkt Präsentation von Gerechtigkeit. Die Behinderung im Stadtbild. Die Verlangsamung des Alltags. Als eine alte Frau beim Anblick Kevins in ihr Taschentuch kötzelt, sieht Peter seine Mission als erfolgreich an. Passanten wollen Kevin umbringen ("Ist das nicht besser, als so zu leben"), ihn streicheln ("Geht das? Merkt er das?"), ihm helfen (das arme Pfund Mensch, einige Euro in die spastisch-verkümmerte Krummhand, dann geht auch das eigene Leben besser). Die Leute, die vorübergehen, interessieren Peter. Ihre Gedanken. Ein Großteil wendet sich mit Grauen ab und Peter schiebt Kevin wieder raus aus der vormittäglichen Einkaufspassage. Richtung Wohnheim. Wohnen. Heim. Wo ist zu Hause?
Am Ende des Arbeitsvormittages zur sogenannten Übergabe spricht der Peter mit dem Spätdienstkollegen über Kevin. Tasse Kaffee, Zigaretten, obligatorisches Pädagogengelaber. Eine Stimmung, die mehr Müdigkeit als Wahrheit in sich trägt. Man bespricht die Befindlichkeit der Bewohner. Bernd hätte zwei Anfällegehabt, Hugo hat in der WfbM jemandem in den Kakao gespuckt, Fraukes Phil Collins-CD Both sides of the story ist kaputt und müsste schleunigst ersetzt werden. Kevin hatte wohl einen guten Vormittag, maßt sich Peter an zu urteilen, während Kevin im Nebenraum an weißen Wänden vorbeischaut. Peters Kollege raucht selbst gedrehte Zigaretten, die ziemlich laut stinken, findet Kevin. Aber in seiner Gesamtsituation reflektiert sich eine verhängnisvolle Zufriedenheit.
Gehirnsucher und Saftgehirne
Die Frau sucht. Es ist etwas durch sie gefahren, was sie völlig durch hinterlassen hat. Vera heißt die Frau und sie stürzt sich ins nackte Nachtleben. Sie sucht den kleinen Jungen, mit dem sie mal gebumst hat und der sie mit seiner naiven Zärtlichkeit und Zartheit ganz weich im Kopf gemacht hat. Aber Vera hasst sich und alles, was mit ihr zu tun hat. Sie will nur noch einmal diesen Jungen an sich und in sich.
Die andere Frau sucht auch. Es ist etwas durch sie gefahren, was sie völlig durch hinterlassen hat. Alle suchen doch immer irgendwas. Besonders in der Nacht. Die andere Frau heißt Britta. Sie hasst sich und alles, was mit ihr zu tun hat. Sie streift durch die Nacht, weil sie sich aufgegeben hat und einfach nur eine lose Inspiration zum Weiterleben braucht. Sie kommt aus ihrem Dreckloch in die Scheinwelt. Sie will Menschen tanzen sehen, sich selbst bewegen, Bewegung sein, bewegt werden, sich bewegt fühlen. Ganz passiv und dennoch rasant fällt sie in die Nacht wie eine gerade losgeschossene Flipperkugel, die überall aneckt und punktet. Pinballaction for a Pin-up-girl.
Die beiden Frauen wissen nichts voneinander. Sind im selben Lokal gelandet, weil die Nacht es so wollte. Vera, weil sie hier kleine Fick- Kevins vermutet, und Britta, weil sie ungestört Bier in sich gießen mag. Die Musik hier finden beide scheiße. Grad läuft was von Oasis, einer englischen Saufbrüder-Kapelle mit genereller Beatles-Überschätzung. John Lennons Songwriting ist unkopierbar, taumelt es in Brittas Kopf und Vera ist die Musik ohnehin egal. #"... and after all, you're my wonderwall ..." rempelt es durch die verrauchte Discostube. Bei dem Wort "Wonderwall" denkt Britta immer an die deutsch-deutsche Lichterkettenrevolution von 1989. Plötzlich war sie da, die Freiheit. Vieles am Scheitern der Menschheit hat mit Freiheit zu tun, weiß Britta. Zu viel Freiheit ist nicht gut für Menschen, verwirrt sie nur.
Der DJ ist kein Gott, sondern eine irrationale, befremdliche Medienmaschine. Eurythmics folgt. Annie Lennox trällert zur Musik von Dave Stewart einen unsäglichen Song. Niemand hier will das.
... Monday finds you like a bomb that's been left ticking there too long you're bleeding some days
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