Satt Sauber Sicher
ertragen.
Britta und Vera schweigen kaum, dafür haben sie keine Zeit. Es läuft ein Lied, das beide kennen und sogar ein bisschen gut finden. Nick Cave and the Bad Seeds: Where the wild roses grow. Dieser Romantikinputmacht beide tränenschwanger. Glitzerwasser am Augenrand und es wird gesungen, so beschissen, wie es sich anfühlt, man selbst zu sein.
... they call me the wild rose, but my name was Elisa Day, why they call me it I do not know for my name was Elisa Day ...
Es flimmert vor allen Augen. Die beiden Frauen umarmen sich und fallen in einen tiefen Kuss. Augenaufschlagsexplosion, Zungenkussrevolution. Nimm mich mit. Ja klar. Alles wird ganz weich. Körperreibung. Eigen- und Fremdwahrnehmung. Alles schön und blinkt. Zungentanz. Irgendwo ein Regenbogen in fremden Augen und Sternschnuppen in den eigenen. Wohin die Hände? Da ist es gut. Lass die Hände, wo sie sind. Nimm mich mit. Lass diese Nacht im Feuer sterben. Begierde. Saftgehirn. Fruchtfleischzungen bahnen sich Wege durch den Morast der äußerst unappetitlichen, alkoholisch beeinflussten Begierde. Zungen tanzen am Abgrund von sich weg und zu sich hin. "I scream ice-cream", brüllt plötzlich eine besoffene Türkin neben den wild zungentanzenden Frauen, aber die nehmen nichts mehr zur Kenntnis, was nicht mit dem Gegenüber oder ihrem eigenen zuckenden Saftgehirn zu tun hat. Die Türkin geht tanzen, geht ab, als ob es morgen nichts mehr zum Tanzen gäbe, und es läuft ein Lied, das keiner kennt, das keiner mehr wahrnehmen kann.
Ungefähr eine Stunde später befriedigt ein gewisser Hugo zwei Frauen, die ohne Männer gut auskommen. Zwischendurch Stellungs- und Batteriewechsel, man versteht sich auch in diesen Belangen mehr alsgut. Im Orgasmustaumel der beidseitige Wunsch nach Zeitstillstand. Ein vom lächelnden Mond beleuchtetes Bett ist der Schauplatz einer Begegnung zweier unentdeckter Universen.
Das Erwachen des nächsten Morgens ist köstlich wie Honig. Honig, den kleine Bienen mit ihren winzigen Rüsselchen aus den schönsten Blumen der Welt gesogen haben. Genau dieser Honig vermengt sich in den Teetassen von Britta und Vera. Dazu gibt es Aufbackbrötchen mit Erdbeermarmelade. Auch diese Nahrung besteht aus Liebe. Die beiden Frauen sitzen in Brittas Bett, schlürfen Tee und schweigen. Schweigen und schwelgen in der Erinnerung der letzten Nacht, in der sie sich den letzten Tropfen Alkohol aus dem Leib gefickt haben. Keine Beschwerden. Kein Postalkoholtrauma und vor allem keine Reue. Beiden geht ein Grinsen von innen nach außen. Innehalten. Den Moment speichern. Alles, was man sieht, behalten können. Brittas Herz kribbelt und knistert wie ein angeschlagener Musikknochen.
Vera bemerkt Brittas kreisende Hand auf ihrem Oberschenkel und die Stimme, die zu ihr spricht, ist ein heiseres Flüstern. "Du weißt, warum du hier bist?", wird Vera vertrauensvoll gefragt. Ja, sie weiß es und es ist die perfekte Kombination aus Liebe und Wahnsinn. Ein Wagnis. Die Abkehr von einem Weg, den man sich vor Jahren ausgedacht hat. Denn der Weg führte vor eine Wand. Immer wieder. Und jetzt ist es an der Zeit, sich um sich selbst zu bemühen. Man kann nicht ewig vor einer Mauer stehen und warten, bis sie umfällt. Ein mutiger Sprung in unbekannte Tiefen. Doch der Aufprall wurde gedämpft von Honig und kleinen Brötchen. Lauwarmer Tee. Alles wird gut. Warum denn auch nicht, ihr Negativerwarter ...
Das letzte Krankenhaus hat keine Fenster
In Rolands Wohnung ist es still. Der Atem kommt und geht. Roland kennt seit Tagen nur noch sein Schlafzimmer und seine Toilette. Die Klospülung ist für ihn nur noch die Blutspülung.
Es. Geht. Dem. Ende. Zu.
Alles! Das zuletzt gehörte Lied noch im Kopf zirkulierend, aber überwiegend ist da Schmerz und Herzzerfall. Alles! Allein! Der menschliche Solist Roland begreift das kunterbunte Sterben und dessen Unvermeidbarkeit. Alles! Allein! Das Lied. Das Leid. Die Zeit. Der schräge Frohsinn, der ihn manchmal besucht. Die Augen der Mutter. Der Blick des Vaters. Das Lied. Viele Lieder. Aber das hier ganz besonders. Das letzte Lied.
... Hey little train! Wait for me! I was held in chains but now I'm free I'm hanging in there, don't you see in this process of elimination ...
Nick Cave and the Bad Seeds - O Children
Genau dieser Prozess der Grundeliminierung ist jetzt fast abgeschlossen. Es fehlt nur noch das Streicheln der kalten Todeshände über den verwesenden, sich selbst zersetzenden Leib. Jetzt, denkt Roland, jetzt kommt der
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