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Saubere Verhältnisse

Saubere Verhältnisse

Titel: Saubere Verhältnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ma2
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Jahr mehr illuminiert wurde. Hatten die Häuser früher nur ein oder zwei beleuchtete Fenster oder elektrische Kerzenständer oder Adventssterne gehabt, so sah man sie jetzt in jedem Zimmer. Ein unbeleuchtetes Fenster war ungewöhnlich und schien das Muster zu stören wie die Lücke eines ausgeschlagenen Zahns in einem blendenden Lächeln. Die Adventssterne waren größer – manche füllten die ganze Scheibe aus und erschwerten Yvonne den Einblick – es gab mehr Farben und Muster als früher.
    Lichtschläuche in Rot, Weiß und Grün eroberten die Gärten. Wie leuchtende Schlangen ringelten sie sich um Büsche und Bäume, krochen an Hecken entlang, Terrassenbalken hoch und auf Balkongeländer hinaus.
    Die beiden Einwandererfamilien hatten sich ihrer schwedischen Flaggen zum Trotz nicht in die Beleuchtungswelle hineinziehen lassen. Yvonne konnte bei ihnen keine elektrischen Kerzenständer oder Sterne entdecken. Ihre Wohnungen glitzerten allerdings das ganze Jahr von glänzendem Messing, Kronleuchtern und Goldbrokat, sie hatten vielleicht schon genug Glanz und Glitter.
    Jörgen würde von Weihnachten bis Dreikönig Urlaub haben, und Yvonne wollte sich in dieser Zeit auch freinehmen, damit die ganze Familie richtige Weihnachtsferien hatte. Als sie das Thema bei Bernhard anschnitt, sperrte er erstaunt die Augen auf:
    »So lange? Aber wird dir da nicht langweilig, Nora? Ich meine, du hast doch keine Familie oder so? Oder etwa doch?«
    Es schien ihm noch nie der Gedanke gekommen zu sein, daß Nora auch außerhalb seines Hauses ein Leben haben könnte. Vom Putzen im Büro hatte sie ihm ja berichtet, aber ansonsten hatte sie nie ein Wort über sich erzählt. Und er hatte nie gefragt. Für ihn schien es selbstverständlich zu sein, daß Nora allein und ohne Familie lebte.
    »Wohnst du vielleicht mit jemandem zusammen?« fragte er erstaunt und warf einen Blick auf ihren nackten Ringfinger. »Aber Kinder hast du doch wohl keine?«
    Yvonne wunderte sich, daß ihm das so unwahrscheinlich vorkam. Die meisten Menschen hatten doch eine Familie, oder?
    Sie waren bei diesem Gespräch im Garten. Sie hatte gewußt, daß er zu Hause war, und ihn gesucht, und ihn wie so oft in dem kleinen japanischen Steingarten gefunden, wo er auf die weiße, wasserartige Kiesfläche starrte. Das Miscantusgras hatte die flaumigen Seidenquasten verloren, es standen nur noch die fischgrätgemusterten Stengel, spröde und fadendünn. Wie ein Insektenskelett, wenn sie eines hätten, dachte Yvonne.
    »Ich habe meine Eltern und die Familie meiner Schwester in Uddevalla«, hatte sie geantwortet. »Und an Weihnachten fahre ich immer zu ihnen und bleibe eine Weile. Wir sehen uns so selten. Und du, Bernhard? Bekommt deine Frau Hafturlaub über Weihnachen?«
    »Helena bekommt erst am 10. April Hafturlaub. Aber ich fahre hin und besuche sie. Ansonsten bin ich allein. Das war schon letzte Weihnachten so.«
    Bernhards Selbstmitleid löste widersprüchliche Gefühle in ihr aus: Sie verabscheute dieses unreife, bettelnde Gesicht mit den schlaffen, weichen Babywangen und den halboffenen Lippen, die immer auf etwas zu warten schienen – auf was? Gebratene Tauben? Küsse? Daß Mama kommt und ihm die Zähne putzt? Eine Ohrfeige hätte er verdient!
    Und gleichzeitig verspürte sie eine dunkle Sehnsucht, dieses Gesicht anzufassen, es sanft, aber bestimmt zwischen die Hände zu nehmen und es zu küssen. Sie erinnerte sich an das Kribbeln, als er während der Massage sein Gesicht zu ihrer Hand gedreht und seine Lippen sie berührt hatten. Und an seine tränennasse Wange an ihrem Mund, seine tastenden Hände unter ihrem Pullover, Sekunden nachdem er das Geheimnis über seine Frau gelüftet hatte.
    In dem Moment war sie geplatzt – die dünne, aber ach so starke Haut, die wir um unser Ich haben und die genauso lebenswichtig ist wie die, die unsere inneren Organe schützt. Das passiert ganz selten einmal. Daß diese Haut, trotz ihrer Festigkeit, Elastizität und Geschmeidigkeit die ungewohnten Bewegungen, die das Leben uns manchmal zu machen zwingt, nicht mitmachen kann und ein kleiner Riß entsteht. So daß wir uns für einen kurzen Augenblick erkennen können, ehe der Riß im nächsten Moment wieder verheilt.
    Sie wußte, daß genau das passiert war, als Jörgen ihr am Sekretär der Mutter das alte Schulfoto weggenommen hatte. Eine angstvolle Sekunde der Offenheit, die sie seither zusammenband.
    Yvonne hatte Bernhard kühl und mitfühlend umarmt, ehe sie das Haus mit einem

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