Saubere Verhältnisse
Menschen.
Wo liegt das Geheimnis? dachte Yvonne später, als sie durch den Vorort ging. Habe ich so schon einmal für jemanden empfunden? Hat jemand schon einmal so für mich empfunden? Vielleicht als Simon noch ganz klein war. Als er nur mir gehörte und ich ihm. Aber sonst gibt es niemanden.
Und was war eigentlich zwischen ihr und Bernhard vorgefallen? Warum hatte sie sich erboten, ihn zu massieren? Sie konnte es nicht mehr verstehen. Er hatte ihr leid getan. Sie hatte ihm helfen wollen. Daran erinnerte sie sich. Sein gequältes Gesicht, als er sich den Nacken rieb. Das Dunkle, Traurige in seinen Augen. Jetzt wird der Brunnendeckel draufgelegt. Sie hatte ihn von etwas Schwerem befreien wollen.
Sie war zu weit gegangen. Ihm zu nahe gekommen. Aber jetzt kannte sie sein Geheimnis. Und dieses Wissen hatte ihre Gefühle für ihn verändert. Seine quengelige Hilflosigkeit, seine schweren Blicke, sein Ausweichen – all das wurde verständlich im Lichte dessen, was sie nun wußte. Zehn Jahre! Auch wenn seine Frau, wie er später erzählt hatte, nach zwei Dritteln der Strafe auf Bewährung freikam, würde sie doch über sechs Jahre weg sein. Das stellte eine Ehe schon auf die Probe! Und diesen Mann hatte sie mit körperlichen Berührungen in Versuchung geführt, seine schmerzenden Muskeln ausgenützt und ihn mit angeblich unschuldiger Entspannungsmassage, die in Zärtlichkeiten überging, in die Falle gelockt. Ein Mann, der schlimmste Schuldgefühle hatte wegen der Untreue, die zum Verbrechen seiner Frau geführt hatte. Sie schämte sich über sich selbst. Ihr einziger Trost war, daß sie keine Hintergedanken gehabt hatte, nichts anderes beabsichtigt hatte, als ihm die Schmerzen zu lindern.
Und vielleicht hatte sie genau das erreicht. Es war eine große Erleichterung für ihn, endlich von seiner Frau erzählen zu dürfen. Vermutlich war es das erste Mal, daß er mit jemandem darüber sprach. Es war ihm gelungen, es vor den Nachbarn und den Arbeitskollegen zu vertuschen. Der Preis für diese Verstellung waren seine immer wiederkehrenden Angstattacken.
Seit er ihr das Foto der Frau im Gemüsebeet gezeigt hatte, hatte er ihr noch viele Fotos und Alben gezeigt. Ferienbilder, Geburtstage, Weihnachten, Alltagsbilder. Die meisten Bilder zeigten Helena, kühl und schön, ungeschminkt und geschmackvoll angezogen. Manchmal war Bernhard auf den Fotos. Auf Ferienbildern posierten sie zusammen an einem Restauranttisch, vor einem Gebäude oder in der Natur. Yvonne vermutete, daß sie bei diesen Gelegenheiten die Kamera einem Kellner oder einem zufällig Vorbeikommenden gegeben hatten, damit sie beide auf das Bild kamen. Außer Bernhard und Helena waren auf den Fotos fast nie andere Menschen zu sehen, sie bekam das Gefühl, daß sie sehr aufeinander bezogen gelebt hatten, ohne viel soziale Kontakte.
Die Frau mit der Löwenmähne war nirgends zu sehen. Vielleicht hatte das eingeschweißte Foto zufällig in seiner Jackentasche gesteckt. Sie hatte vielleicht mit seinem Job zu tun. Vielleicht hatte er sie in Wirklichkeit gar nie getroffen.
Yvonne hatte sich beim Bilderanschauen ein wenig gelangweilt, das passiert ja leicht, wenn man Fotos anschauen muß von Begebenheiten, an denen man nicht teilhatte. Sie hatte sich ihrer Rolle als Beobachterin erinnern müssen. War das nicht genau der Sinn ihrer Spezialstudie im Orchideenweg 9: Soviel wie möglich über die Bewohner zu erfahren und – ohne herumzuschnüffeln – soviel Informationen wie möglich aufzunehmen?
Sie betrachtete das feingeschnittene Gesicht und die ungewöhnlich blauen Augen – sie hatte erst geglaubt, daß Helenas intensiv blaue Augen auf dem ersten Bild ein fototechnischer Zufall gewesen waren, aber seit sie noch mehr Fotos gesehen hatte, war sie sicher, daß die Farbe ganz naturgetreu wiedergegeben war.
Sie suchte nach Zeichen für psychische Instabilität. Denn irgend etwas stimmte doch nicht bei dieser Frau? Eifersucht war eine starke Kraft, und zu der Zeit, als sie Jörgen noch liebte, hatte sie sich oft detailliert und erschreckend genau vorgestellt, wie sie ein Messer in seinen Körper und den der Geliebten stach. Aber wie lebendig diese blutrünstigen Phantasien auch waren, es waren doch nur Phantasien. Für die Frau mit dem intensiv blauen Blick unter dem knabenhaften schrägen Pony war es nicht bei Phantasien geblieben. Anstatt ihr Linderung zu verschaffen und zu verebben, hatten sich die Phantasien in einen rationalen Plan verwandelt und der Plan in
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