Sauberer Abgang
lächelte Karin verschwörerisch zu und reichte ihr ein Sektglas, am Kollegen Czernowitz vorbei, der wieder mal mit sich selbst beschäftigt zu sein schien. Wahrscheinlich hatte er Krach mit seiner Frau.
Karen leerte das Glas in einem Zug und hielt es Manfred Wenzel gleich wieder hin, der ihr nachschenkte, nicht ohne ihren Durst mit hochgezogenen Augenbrauen zu kommentieren. Normalerweise konnte sie den Rest des Tages vergessen, wenn sie so früh schon Alkohol trank. Aber heute war eine anästhetische Maßnahme erlaubt. Sie mußte zum Zentrum für Rechtsmedizin in Sachsenhausen und bei einer Sektion anwesend sein. Und leider gehörte sie zu den Leuten, denen wochenalte Wasserleichen etwas ausmachen. Wenigstens war es nicht Gunter, der die Sektion leitete, sondern seine Kollegin, die nervenstarke Aglaia. Die Ärztin pflegte immer dann einen ihrer trockenen Sprüche von sich zu geben, wenn sie merkte, daß die anwesenden Nichtmediziner aus den Puschen zu kippen drohten, weil der Geruch sie zu überwältigen begann oder das Geräusch, mit dem die Innereien in die Schale klatschten. Oder der Anblick des Gehirns, wenn die Säge die Schädeldecke aufgefräst hatte.
Nach der Sektion der Wasserleiche war ihr der Appetit gründlich vergangen. Die Frau hieß Caroline Sender und war 64 Jahre alt, als sie im Main ertrank. Bei der Thoraxöffnung quollen Aglaia die Lungen der Frau entgegen. Ein widerwärtiger Anblick. Ebenso widerwärtig die Hautablösung an den Händen – die Frau hatte schon mindestens sechs Tage im Wasser getrieben. Ein Fremdverschulden war zwar nicht auszuschließen, aber auch nicht feststellbar. Karen konnte sich plötzlich vielerlei Gründe vorstellen, warum man mit 64 freiwillig in den Tod ging, wenn man allein lebte. Ohne Liebe.
Der Verlust der Liebe kam ihr plötzlich ungeheuerlich vor.
Zurück im Büro, erledigte sie die Fälle, die mehr oder weniger Routineangelegenheiten waren – ein betrunkener junger Mann, der eine Polizistin als Schlampe beschimpft hatte, ein Lehrling, der sich beim Klauen erwischen ließ, ein Marokkaner und ein Türke wegen Verstößen gegen das Ausländerrecht. Die Wirklichkeit, die ihr da aus den Akten entgegenlachte, hob ihre Stimmung nicht. Als Thomas Czernowitz kurz vor Feierabend in der Tür stand, war sie fast erleichtert über die Ablenkung.
Sie kannte Czerno seit der Studienzeit – damals nannte er sich noch Che, daran durfte man ihn heute nicht mehr erinnern. Er ließ sich in den Sessel gegenüber ihrem Schreibtisch fallen und streckte die Füße von sich.
»Und wie?« fragte er.
Karen lehnte sich zurück und schnippte ein rotes Blütenblatt vom Schreibtisch. Noch leuchtete der Frühlingsstrauß rot und gelb, aber der Verfall hatte schon eingesetzt.
»Geht so«, antwortete sie. »Und selbst?« Ja, jetzt roch sie es. Die Tulpen verabschiedeten sich. Sie mochte den Geruch verwelkender Blumen nicht.
Czerno strich sich die etwas zu langen grauen Kringel auf seinem Haupt mit einer koketten Geste hinters Ohr, als ob er noch immer der blonde Engel von früher wäre. »Marcus Saitz. Der Fall ist doch auf deinem Schreibtisch gelandet, oder?«
Was sonst? Die meisten Staatsanwälte sind Alphabetabhängige, d.h. sie bearbeiten alle allgemeinen Strafsachen je nach dem Anfangsbuchstaben, unter dem sie erfaßt wurden. Nach der Geschäftsordnung war sie für alles zuständig, was unter R (ohne Ra) und Sa-Sal fiel. Sie warf die heruntergefallenen Tulpenblätter in den Papierkorb.
»Fragt sich, ob es ein Fall ist oder bloß eine Akte. Ich fürchte, unser herzensguter Notarzt Siggi Leitner wollte uns wieder mal ärgern. Denn nichts deutet auf Fremdverschulden hin. Der Mann ist umgefallen. Plötzlicher Herztod.« Das nannte man früher Managerkrankheit.
»Bist du sicher?«
»Sicher kann man erst nach der Obduktion sein. Aber das zieht sich noch.«
Bei den Gerichtsmedizinern gab es immer Engpässe, zumal, wenn Gunter unterwegs war. Und dann kamen die dringlichsten Fälle zuerst – die, bei denen zumindest ein Anfangsverdacht vorlag. Und den sah sie hier nicht.
Karen gähnte. »Czerno, ich wollte eigentlich Feierabend machen. Und, ehrlich gesagt, ich bin wirklich nicht auf jeden Fall scharf, auch wenn ihr mich alle für eine Streberin haltet.«
»Er war mein Freund.« Czerno verzog das Gesicht. »Ich wollte nur wissen – ob da alles mit rechten Dingen zugegangen ist.«
»Und an was dachtest du?« Karen hatte plötzlich Mitleid. Der Kollege sah wirklich erbärmlich
Weitere Kostenlose Bücher