Sax
der Nacht gewoben hatte, und sehnte sich danach, wieder ins «Fabrikli» zu entkommen, wo Rosa ihr Matriarchat mit kulinarischem Schwerpunkt unterhielt.
Tövet war auch für ihn, wie für Moritz, eine Stütze der Lebensfreude. Das Haus war wieder zum Anziehungspunkt für Sinnsucher aller Art geworden, die anfingen, eine neue Kleingesellschaft mit verschwiegenen, doch wirksamen Regeln zu bilden, in der das Wort «Gemeinschaft» ebenso verpönt war wie «Kollektiv». Eine Alters-WG der Revolution? Aber von Revolution sprach außer den Jüngsten, Karl und Rosa, keiner mehr, und was das Alter betraf, erinnerte Tövet Hubert und Moritz daran, daß sie schon erfreulich lange gelebt hatten. Vor hundert Jahren wären sie als Sechzigjährige längst Greise gewesen; so sah jetzt noch keiner aus, auch Tövet nicht. Er sei jetzt schon zwanzig Jahre älter als sein Vater, und nächstes Jahr überhole er auch seinen Großvater. Kein Abstieg ohne Überraschung. Im Gegenteil: schon morgen war es möglich, daß er den vollen Gebrauch seiner Glieder wiederhatte, und seine Singstimme auch.
Auch an Marybel ging der Unernst der Nullerjahre spurlos vorüber. Als Florian, zum Mann operiert, aus der Bewußtlosigkeit erwachte, war sie es, die seine Hand hielt; das allein kann es nicht gewesen sein, was ihn sprachlos machte. Ohne Jacques fand er sich in einer Lage, in der ihm die Verständigung unmöglich geworden war; da schien es ihm das beste, das Werkzeug, das ihm diese Tatsache zuschmerzhaft bewußtmachte, gar nicht mehr zu gebrauchen. Die «Task-Force» sprang in die Lücke, so gut sie es verstand, Tschirky, Daniela und Deirdre; bei den beiden Frauen wohnte er auch in der Periode der Rehabilitation oder vielmehr: sie bei ihm, denn Jacques’ Testament hatte ihn zum Erben der Wohnung gemacht. Das Frauenpaar biß Michelle, die philippinische Pflegerin, sofort weg, doch bei Marybel bissen sie auf Granit. Sie wußte, was der Operierte am nötigsten hatte, und unterwies ihn im Gebrauch der neuen Organe, sanft wie eine Taube, aber auch klug wie eine Schlange. Denn das Studium war als privater Zeichenunterricht getarnt, für den er sie zweimal wöchentlich in ihrer Wohnung besuchte.
Was sie unternahm, um den Ziehsohn Jacques’ hinter dem Rücken Danielas und Deirdres, aber auch der Psychiater und Logopädinnen, nicht nur zum Mann aufzurüsten, sondern zum Engel des Schreckens und zum Werkzeug der Vergeltung – das ist eine Geschichte, die anderswo erzählt werden muß, denn sie würde den Rahmen einer Spukerzählung sprengen. Nur so viel: Die Gelegenheit, bei der Florian die Sprache wiederfand, war diabolisch ausgesucht und genau gezielt; sie hatte den Sinn, Hubert Achermann zu entgeistern und aus dem Haus «zum Eisernen Zeit» zu vertreiben.
Als er es am Donnerstag, dem 18. März, betrat, um, wie jede Woche, das Rätsel zu Ehren seiner Toten zu lösen, fand er die Kuppel schon besetzt. Marybel und Florian befanden sich auf Horners unberührbarem Teleskoptisch in Kopulation, Florians erreichte Mannhaftigkeit wurde Achermann im Triumph vorgeführt. Und als er in der Tat sprachlos davor stand, warf ihm Florian, wie einem Hund, vier unsägliche Worte hin, die ersten, die ihm seit Jacques’ Tod über die Lippen kamen:
Verpiß dich, alter Spanner!
Der Schlag, die Schmach hatten Hubert erst richtig getroffen, als er wieder auf der Straße stand, ohne zu wissen, wie er dahin gekommen war.
Florian aber war von jenem Tag an verschwunden gewesen, als hätte ihn der Erdboden verschluckt. Es waren Deirdre und Daniela, die ihn vermißt meldeten, aber die Suche erwies sich als aussichtslos.Marybel schien die Abwesenheit ihres Schützlings so wenig zu beunruhigen, daß Achermann annehmen mußte, sie habe ihren Anteil daran. Aber selbst wenn er daran gedacht hätte, den Fall weiterzuverfolgen: er wäre dazu nicht imstande gewesen. Denn wenige Stunden nach seiner Vetreibung aus der Kuppel war er zusammengebrochen und mit einem Kreislaufkollaps in die Notfallstation des Kantonsspitals eingeliefert worden. Da blieb er einige Tage, und auch wenn der Verdacht auf einen Herzinfarkt sich nicht bestätigte: die Sprachlosigkeit Florians schien auf ihn übergesprungen zu sein, obwohl sich dafür keine organische oder neurologische Grundlage finden ließ. Es war
wie verhext
, und da Zeitgenossen diesen Zustand nur noch als Redensart kennen, war ihm medikamentös auch nicht beizukommen. Im Licht späterer Vorkommnisse könnte man die Diagnose wagen, daß die
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