Sax
Phantasie, von Waldvögeln in den Schlaf gesungen zu werden, entsprang der Welt von Nachtschwärmern, nicht Frühaufstehern. Die Buche trug bereits eine Codenummer, nur Eingeweihten bekannt, damit sie und nur sie die Stelle wiederfanden. Moritz sollte es sein, der das Tonkrüglein in einem roten Netz herunterließ. Er tat es, wie ein Polarfischer die Angel in ein Eisloch senkt. Dann trug Achermann Verse von Hugo Ball vor. Jacques und er hatten sie einander zu «Rotrecht»-Zeiten vorgesagt, mit mokantem Pathos; es mußte ihren stillen Ernst verbergen, dessen Stunde nun gekommen war.
Wir sahen’s wohl, und uns beschlich ein Sehnen
Nach Untergang und gallgetränkten Tränen
Zu schlürfen aller Trauermeere Flut.
Vergiftet fühlten wir das eigne Wähnen
Und ein Verlangen, uns dort anzulehnen,
Wo der versunkenste der Engel ruht.
Wem die Gabe der Tränen beschieden war, ließ sie nochmals herzhaft fließen. Nun sollte die Grube zugeschüttet werden, aber die Schaufel fehlte. Geistesgegenwärtig lehnte Marybel ihre Krücken an die Buche und zog den Schuh von ihrem gesunden rechten Fuß. Den linken in der Luft, schöpfte sie, kunstvoll balancierend, drei Schuhvoll schwarze Erde und schüttete sie in die Grube. Dann ließsie den Pumps auf dem Hügelchen stehen, damit sich auch die anderen seiner bedienen konnten. Der geopferte Schuh gewann märchenhafte Qualität. Nie war Staub graziöser zu Staub zurückgekommen und Asche zu Asche.
Nach einer Weile der Stille rief Marybel: Und jetzt lädt uns Jacques zum Frühstück ein! Moritz, gehst du voraus?
Für sie selbst galt die Aufforderung noch nicht. Während sich die Gesellschaft auf dem Sträßchen entfernte, das einige hundert Meter weiter zu einem bekannten Landgasthof führte, kniete Marybel nieder und vergrub ihren Schuh im lockeren Erdreich über der Urne. Dann drückte sie es mit beiden Händen fest, richtete sich auf, zog sich den Schlüpfer auf die Knie nieder und hielt sich mit beiden Händen am silbergrauen Stamm fest, um die Stelle kräftig zu wässern. Sie kannte die heilsame Wirkung des Morgenurins auf das eigene Immunsystem. Die kleine Weihe würde die Erde leichter machen für den, der darunter lag. Und was sie am Kleid und an beiden Füßen, auch dem eingewickelten, mitnahm, war kein Schmutz, es war die Spur der Zusammengehörigkeit derer, die man irdisch nennt, weil sie aus Erde gemacht sind und wieder zu Erde werden müssen.
Und während Marybel der Gruppe mehr nachhüpfte als -humpelte, mit schwingenden Krücken, freute sie sich auf den Tanz mit ihnen, jedem einzelnen. «Ein Mal sollte jeder spüren, was es bedeutet, dich im Arm zu halten.» Es war ein Vermächtnis aus ihrer glücklichsten Zeit.
19
1997–2010. Entgeisterung
Nach Jacques’ Tod macht diese Geschichte einen Sprung. Sie setzt erst einige Zeit später wieder ein, mit der ersten verbürgten Rückkehr des Spuks ins Haus «zum Eisernen Zeit».
Die Jahre zwischen 1997 und 2010 «entgeistert» zu nennen wäre ein kühnes Kürzel, aber für die allgemeine Geschichte läßt es sich vertreten – immer mit dem Vorbehalt, daß es eine solche nicht gibt. Sie wäre ein Phantom. Aber selbst für ein solches wirkten die Jahrhundertwende und die folgenden Nullerjahre erstaunlich entgeistert. Mit diesem Wort bezeichnet man sonst die momentane Verfassung eines Subjekts, und als diese kann Entgeisterung einen guten, ja lebensrettenden Sinn haben. Den verliert sie als Dauerzustand einer ganzen Zivilisation; dann ist er von Schwach- oder Leichtsinn nicht mehr zu unterscheiden. Eine chronisch entgeisterte Zivilisation sucht Zerstreuung um jeden Preis. Es ist, als hätten die Betroffenen stillschweigend vereinbart, das Erschrecken über sich selbst ganz bleiben zu lassen, da sie von ihrer Unfähigkeit, an seinen Ursachen etwas zu ändern, zu tief durchdrungen sind. Ein lebens gefährlicher Trick. Wir dürfen das Erschrecken nicht ganz verlernen. Gegebenenfalls sind Geister, die uns heimleuchten, besser als nichts.
Von der Jahrtausendwende, angekündigt vor allem als Computerpleite, nur soviel: diese wurde erfolgreich vermieden. Die Glocken brauchten nicht von Hand geläutet zu werden. Aber Jacques, der dies befürchtet hatte, hörte sie so oder so nicht mehr. Von ihm gibt es auch keine spukhafte Wiederkehr zu melden. Er muß alleGeschäfte erledigt haben, in seiner Art. Allerdings blieb er auch seinem Freund Hubert die versprochene Nachricht schuldig. Dieser führte trotzdem das gemeinsame Kreuzworträtsel
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