Sax
der Stadt etwas für seinen Kreislauf tun könne; dann erfülle die Kuppel wieder einmal einen guten Zweck.
Sidonie hatte in den Nullerjahren Punkt um Punkt gesammelt. Mit jedem Schlag, den das Land traf, schien Sidonies Kopf höher aus dem Nagelbrett hervorzutreten. Jetzt hielt sie sich bereit für den größten Sprung. Sie erlaubte niemandem, auf den Gedanken zu kommen, ihr Projekt könnte nicht solide, ihr Aufstieg ein Spuk sein. Außer ihr selbst wußte nur ein einziger Mensch, daß sie nicht mehr lebte. Das war ihr Mann, und er würde sie nicht verraten.
Drittes Buch
20
März 2010. Diebold
Achermann ließ die Tür zum «Eisernen Zeit» hinter sich ins Schloß fallen und atmete kurz. Sein rechtes Bein tat weh. Zum ersten Mal war er wieder allein Auto gefahren, vom «Gugger» ins Parkhaus; mühsam hatte er sich aus dem Sitz des Jaguars gestemmt und den Wagen verschlossen, nachdem er die Sporttasche vom Rücksitz geholt hatte. Wenn er langsam ging, ließ sich seine Behinderung verbergen. Es hatte, statt fünf Minuten, eine Viertelstunde gedauert, bis er unter der Sonnenuhr stand. Jetzt ließ er den Vorfrühling hinter sich. Die Kühle des Entrees war merklich; er hatte geschwitzt, aber der Sommeranzug hielt ihn zusammen.
Willkommen! hörte er laut sagen. Frischknecht stand, in Anzug und Krawatte, am obern Ende des roten Teppichs und wollte ihm entgegenkommen.
Nicht nötig, Hermann, danke.
Achermann faßte das Geländer und schlenkerte das versteifte Bein eine Stufe um die andere hoch. Als ihn Hermann umarmte, kam er sich gebrechlich vor. Ich muß
gehen!
sagte er, als ihm Hermann die Lifttür öffnete. Und so gingen sie denn, Hermann in hilfsbereitem Abstand, das Treppenhaus hoch bis zum vierten Stock.
Sie waren in Marybels Arbeitszimmer angelangt, der ehemalige Familiensalon wirkte aufgeräumt. Ihr Pult war, bis auf den Rechner und eine Zeitung, leer.
Kurios, sagte Hermann, gestern brachten wir das Gerät hinauf, da war sie noch da.
Achermann nahm die Zeitung, und sie stiegen weiter in dieKuppel. Auf dem Podest stand das neue Trainingsgerät und beherrschte mit seinem ausladenden Geweih den Raum. Horners Porträt war weg, auf der Kuppelschiene standen nur noch Gehlers «Physikalisches Wörterbuch» und die Glaskugeln.
Während sie gemeinsam den grünen Stoff mit weißen Streifen über das kranke Bein streiften, sagte Achermann: in zwei Stunden fahre ich zurück. Aber warte nicht auf mich.
Zwanzig Minuten fürs erste, sagte Hermann, und der Puls bleibt unter hundert, bitte. Ich kann dir auch ein Meßgerät für den Blutdruck draufpacken. Blutverdünner nimmst du ja wohl. Du solltest regelmäßig trainieren, wenn schon.
Dann komme ich eben regelmäßig hierher.
Was legen wir auf? Einen langsamen Blues?
Martial Solal.
Die ersten Akkorde schnellten in den Raum; Hubert hatte mitzutreten begonnen. Dann sagte er: Erst das Rätsel, dann das Vergnügen. Es muß gleich fünf sein. Er blickte auf die Uhr. – Verdammt, sie steht. Ich habe vergessen, sie draußen zu lassen.
Wenn etwas nicht stimmt – ruf mich an. Aber du hast ja kein Handy.
Immer noch nicht, aber es stimmt schon alles.
Als Hermann gegangen war, ließ Achermann die Falltür nieder und holte das Chronometer aus dem Schrank. Marybel hatte es aufgezogen. Sechs Minuten vor fünf. Er zog Horners Schulbank aus der Wand. Auf der Tischplatte waren zwei unförmige, roh gefertigte Puppen mit Klebeband befestigt, eine Spanne hoch, eine Frau und ein Mann, die an der Schulter zusammengenäht waren. An den rötlichen Haarsträhnen der Frau klebte ein Tüllschleier, weitere Stoffreste auf ihrem Körper, ein Stück gewellten Damasts, ein mit Blumen bedruckter Rock. Beide Puppen waren hart gestopft, die männliche nur mit einem langen Hemd aus Matratzenstoff bekleidet und durch ein Büschel Schnauzhaar gekennzeichnet. Beide Gesichter waren länglich und leer und ihre Züge nur angedeutet, bis auf zwei Fadenstiche Lippenrot im Frauengesicht.Auf der Brust des Mannes war mit Bleistift eine Buchstabenreihe eingetragen. Eine kleine Muschel haftete auf der Herzseite.
Die Puppen erschreckten ihn, denn sie waren ihm nicht unbekannt. Plötzlich sah er Mandys Bettpfosten vor sich, an dem sie gehangen hatten, ihr Kinderspielzeug auf den Fidschiinseln. Ihre Mutter hatte das Paar genäht und auf die Brust des Bräutigams alle Buchstaben geschrieben, die sie kannte, darunter ein verkehrtes E.
Marybel hatte ein Zeichen hinterlassen, auf ihre Art, und es ging eine dunkle
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