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Sax

Sax

Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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Drohung davon aus. «Verpiß dich, alter Spanner» war das letzte Wort, das er in diesem Raum gehört hatte; es war sechs Jahre her. Nun kam er wieder, und Tschirkys Hinrichtung deutete darauf, daß auch Florian wiedergekommen war. Die Köpfe der Puppen waren mit einer Schlinge aus rotem Bindfaden verbunden, an der man sie heben konnte; Achermann tat es mit spitzen Fingern, als fasse er einen toten Vogel. Dann öffnete er die Falltür und warf die Puppen auf die Treppe. Von der nahen Augustinerkirche schlug es fünf Uhr. Er holte den Silberstift aus dem Jackett, schob sich in die Schulbank und wollte sich ans Werk machen, da klopfte es an die untere Tür, ein Wirbel wie mit Fingerknöcheln.
    Hermann hätte nicht geklopft, Marybel jedenfalls nicht so. Ein Unhold ebensowenig. Ein unbekannter Gast? Der würde nochmals klopfen.
    Aber es geschah nichts mehr. Er setzte den Stift an und erlebte die nächste Überraschung:
    Es braucht kein Hinterteil, wenn es nach Moos scharrt
. RENTIER. Das kam ihm bekannt vor. Auch die nächsten drei Schlüssel erkannte er sogleich wieder: so war das Lösen keine Kunst. Er blätterte die Seite um und prüfte das Datum: es war das von heute. Offenbar hatte es sich der Rätselmacher leichtgemacht und rechnete nicht damit, daß es unter seinen Kunden solche gab, die ihm seit dreißig Jahren die Treue hielten. Achermann biß sich durch, fast in Windeseile: nach fünfundzwanzig Minuten waren nur noch drei Buchstaben übrig, der letzte ein N.
Er hat nur … geliebt, der einzige Todesschütze
.
    Und in diesem Augenblick klopfte es wieder, aber noch nicht an der Falltür. Konnte es der gleiche Mensch sein? So lange wartet keiner, bis er zum zweiten Mal klopft. Aber es war derselbe Wirbel.
    Achermanns Herz schlug bis zum Hals. Und doch blieb er kühl. GIN, TON, BON – das hätte gepaßt, aber was hatte es mit einem Todesschützen zu tun, warum war er «einzig», und hatte er auch nur eine – oder einen – geliebt? Zuerst kam Achermann der Tell in den Sinn, aber seine Hedwig gab es nur bei Schiller, außerdem war sie zu lang und hatte kein N. TOD hatte auch keins, und wer hätte «nur» ihn geliebt? Warum erinnerte er sich an diese drei Buchstaben nicht mehr?
    Er zog sich aus der Bank, dehnte und streckte die Glieder. Das gehörnte Gerät starrte von seinem Sockel herab. Achermann war allein im Haus. Argwöhnisch behorchte er das Dröhnen der Stille in seinen Ohren. Dann ging er zur Tonanlage, drückte die Taste und stellte die Lautstärke hoch. Der Kuppelraum begann unter den Tastenschlägen zu beben. Achermann stieg auf das Ergometer, schob die Füße in die Riemen und wählte einen Tretwiderstand, mit dem er dem Takt folgen konnte, nicht zu mühelos, nicht zu angestrengt.
    Diese Musik sperrte sich gegen die Erwartung von Regelmäßigkeit. Solals Anschlag hatte nicht das Pathos der Befreiung, sondern die Intelligenz der Résistance, die Häßlichkeit der Sabotage. Ein Algerier in Paris. Die Takte hatten den schleppenden Gang von Karawanen, es war etwas Mageres daran, das der heiße, doch reine Atem der Wüste ausgezehrt hatte. Hie und da, sparsam wie beim Haushalten mit Trinkwasser, gönnten sich die Töne eine Oase des Wohlklangs.
    Eigentlich war der Anfall im Rettungswagen schon wieder vorbei gewesen: er fühlte sich nicht als Notfall, und die erste Diagnose ergab keinen Befund. Sidonie fuhr ihn in ein Krankenhaus ihres Vertrauens zur Angiographie. Er konnte auf dem Monitor zusehen, wie die Sonde, die man ihm in die Beinarterie geschoben hatte, in seine Herzkranzgefäße kroch; und er fühlte, wie ihm, mit einem nicht schmerzhaften, doch merklichen Ruck eine Titanhülse umdie andere ins Geäder gekniffen wurde. Erst nachdem er schon wieder eine Stunde auf dem Zimmer zurück war, zeigte sich das Mißgeschick einer ungenügend verschlossenen Arterie. Die erzürnte Sidonie verlegte ihn auf den «Gugger» und in die Obhut ihres Leibarztes. Bald konnte er in sein Studio umziehen und wurde von ihrem Hofstaat versorgt, während sie auf Reisen war. Als Vorsitzende einer Städtevereinigung konnte sie sich keine Ruhe gönnen; er hatte sie um so mehr.
    Salomon war nicht mehr zu Hause. Was anfangs als eine Art Maturareise angefangen hatte, versprach, sich zu einem Zwischenjahr auszudehnen. Der junge Mann beteiligte sich im kleinsten der acht Vereinigten Emirate an einer Körperschaft, die der regierende Scheich mit der Ausarbeitung eines Leitbilds beauftragt hatte. Offensichtlich genoß Salomon sein

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