Sax
zu lösen fort, nun eben allein.
Die Nullerjahre standen bevor. Eigentlich ereignete sich nichts von Belang. Man konnte auch zum entgegengesetzten Schluß kommen. Sie trat ein, die weltweite Krise der Finanzwirtschaft, welche das Anwaltskollektiv AAS schon bei seiner Gründung hatte kommen sehen und gern beschleunigt hätte. Noch mehr bis vor kurzem Unvorstellbares trat wirklich ein, sogar in der Schweiz. Fast alles, wofür sie gestanden zu haben glaubte wie eine Bank, verflüchtigte sich, nicht zuletzt das Bankgeheimnis. Aber so recht wirklich war das alles auch nicht mehr. Auch schwerwiegenden Entwicklungen kam schon beim Eintreten das Gewicht abhanden, ein früher gefühlter und gewohnter Ernst. Schon die Nullerjahre des vergangenen Jahrhunderts, die sich ja auch Belle Époque nannten – konnte man nicht ohne Paß durch ganz Europa reisen? –, müssen unter ihrem Unernst so gelitten haben, daß die meisten Zeitgenossen den Ausbruch eines Weltkriegs als Erlösung empfanden. In den Nullerjahren des 21. Jahrhunderts war selbst ein reinigendes Gewitter unvorstellbar geworden. Der Unernst war zu umfassend. Gewiß, das Gespenst des Terrorismus ging um, und sein Zwilling, der Krieg gegen den Terrorismus. Natürlich wurde immer noch gestorben, auch wenn immer mehr Leute hundert Jahre alt wurden. Viele, mehr als in anerkannt trostlosen Zeiten, suchten selbst den Tod; aber zwischen der individuellen Not und ihrem Erscheinen in der Statistik war ein Verbindungsstück ausgefallen, das von Vorstellungskraft bewegte gesellschaftliche Mitgefühl. Dein Problem war nicht mehr mein Problem. Das hielt man für individualistisch. Dabei gab es zu allem, was man tat oder ließ, einen Subtext in Zahlen. Es mußte sich lohnen, auch wenn man immer weniger wußte, was das heißen sollte. Aber eine Art von roher oder schlauer Ökonomie besetzte alle Reviere, die früher Gott, dem Gewissen oder der Seele zugewiesen wurden. Daran änderte die internationale Finanzkrise nichts; nicht im Ernst.
Der Unernst war ansteckend, jedenfalls bei Männern. Bei Tövet wurde multiple Sklerose diagnostiziert; davon machte er selbst nichts her. Aber das «Fabrikli» begann sich zu entvölkern. Leute, die nicht zu Pflegern werden wollten, suchten sich einen anderen Standort. Sie hatten einen Heiland für mancherlei Gebrechen verlangt, nun wurde er selbst gebrechlich; so hatten sie nicht gewettet. Auch Hubert Achermann zeigte sich nur noch sparsam, seit ihn ein Eklat, von dem noch die Rede sein muß, aus seiner Kuppel vertrieben hatte. Danach war sein Kreislauf zusammengebrochen – für seine Frau Sidonie ernsthaft genug, daß sie ihn, nach längerem Krankenhausaufenthalt, im «Gugger» behielt, auch wenn er keiner ständigen Fürsorge bedürftig war.
Aber es war Moritz Asser, der dafür sorgte, daß weder das «Fabrikli» verödete noch Tövet sich selbst überlassen blieb. Von Moritz Asser gibt es eine erstaunliche Entwicklung zu melden. Im Herbst 2005 begann er die über alle Kontinente ausgespannten Flügel seines Geschäfts einzuziehen, verkaufte seine Wohnung in London und bezog ein Zimmer im «Eckstein» als Dauer- und Pensionsgast. Das tat er, wie es hieß, um in der Nähe seines Vaters zu sein, der um keinen Preis in ein Alters- und Pflegeheim wollte – eine Begründung, die das Milieu der Hochfinanz, in dem sich der Sohn bewegt hatte, unmöglich ernst nehmen konnte. Warum konnte er sich nicht vertreten lassen bei diesem Akt der Pietät – der ihm, wie es hieß, von dem eigensinnigen Alten keineswegs gedankt wurde? Der unverlangte Rückzug der «Phryne» aus dem globalen Bankgeschäft mußte Gründe haben, und der Verdacht, Asser verfüge über anderen nicht zugängliche Indizien einer fatalen Entwicklung, schlug sich alsbald in einem Kurssturz an der Börse nieder, da der Markt, obwohl er selbst mit fiktiven Größen operierte und Seifenblasen als Werte verkaufte, eine Demonstration ökonomischen Unernstes in dieser Größenordnung nicht für möglich hielt. Drei Jahre später, als der Finanzmarkt tatsächlich zusammenbrach und große Teile der sogenannten Realwirtschaft ins Elend riß, entstand eine Diskussion darüber, ob der Liquidator der «Phryne»-Gruppeim Rückblick als Prophet oder als Verursacher der Krise zu betrachten sei –, daß er ihr Profiteur sein mußte, galt selbstverständlich als ausgemacht.
Moritz hätte nicht widersprochen, wäre er für dieses Milieu und seine Presse noch zu sprechen gewesen. Aber Gewinn definierte
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