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Sax

Sax

Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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chronische Entgeisterung, die von der Epoche Besitz ergriffen hatte, in Hubert Achermann im März 2010 in ein akutes Stadium getreten sei. Der Geist, den die Zeit aufgegeben hatte, meldete sich mit einem Schlag als
Ungeist
zurück, und es ist dann nur eine Frage der Zeit und der vorhandenen Disposition, bis daraus wieder ein mehr oder minder altbekannter Spuk wird, mit allem, was an Grauen und Gruseln dazugehört.
    Wer läßt ihn ein? Wer öffnet ihm Tür und Tor? Auch wenn es die entgeisterte Zeit selbst ist, die statt geistig hilfreicher nur spukhafte Belegschaft anzieht wie ein saugstarkes Vakuum – man kam nicht umhin, die lästerliche Hochzeit Marybels mit Florian ein
Schlüssel
ereignis zu nennen. Sie hat damit einen Todesengel erweckt, der nach allen Regeln der Schwertkunst ausgebildet, wiederkehren und unter neuem Namen seine Ernte beginnen wird. Dr. Tschirky ist der erste, dessen Kopf fällt – oder gerade nicht; denn er schien immer noch, nur von einer Blutspur umlaufen, an seiner Stelle zu sitzen, so exakt war der Hals, bis auf einen Hautlappen, durchtrennt. Ein solcher Schlag bedarf einer übermenschlichen Konzentration des Täters, er hat schon bei den Beamten für
akute
Entgeisterung gesorgt, die Tschirky über eine Abbildung desSchwerts gebeugt fanden, das ihn getroffen hatte, gerade als hätte er dazu stillgehalten; und das war erst der Anfang.
    Mit welcher Ruhe Marybel der Entwicklung entgegensah, die sie in der Kuppel mit ihrem eigenen Fleisch und Blut losgetreten hatte, läßt sich am letzten Spielkameraden ablesen, den sie sich leistete. Es war kein anderer als Timothy aus Oklahoma, der von Moritz gefeuerte Sargräuber. Nun hatte er an Philipp von Sax einen Narren gefressen, schaffte sich ein Musterbuch historischer Kostüme an und bearbeitete ihn am Bildschirm. Er kleidete ihn im Stil des 16. Jahrhunderts ein, als Schüler, Humanisten, Kriegsmann, Schultheiß. Mit dem Gesicht war nicht so leicht fertig zu werden. Wie generiert man aus einem grimassierenden Mumienkopf ein glaubhaftes Menschengesicht? Marybel schwebte ein Modell mit fleischigen Lippen vor, aus denen lückenhafte Zähne sahen, und Augen, die äffisch nahe beieinanderlagen, verdunkelt von einem breitkrempigen schwarzen Hut.
    Ich habe ihn gesehen, Tim. Ich muß es wissen.
    Tim war in den zehn Jahren seit dem gemeinsamen Sargraub älter geworden, aber nicht erwachsener. Sein Geschmack war unverändert «gotisch», und er glaubte auch an einen eigenhändigen Schöpfer. Marybel hatte einen unentbehrlichen Helfer an ihm, seit sich Hermann zurückgezogen hatte, außerdem einen einfallsreichen Spielgefährten – und notfalls auch wieder einen Komplizen. Der alte Thomas Schinz besaß eine Sammlung chinesischer Teppiche, und die beiden benützten die Verkleidung von Auktionsexperten, um während eines Kuraufenthalts des Hausherrn in seine Villa einzudringen, das Bild Fannys über dem Flügel zu entwenden und heimzuführen, wohin es gehörte: in die Kuppel, vis-à-vis dem Porträt Caspar Horners. Freilich waren die Fluchthelfer von Schinz’ Videoüberwachung erkannt worden, und er schickte seinen alten Freund Moritz Asser bei Marybel vorbei, um sie zur gütlichen Herausgabe ihrer Beute aufzufordern; natürlich umsonst. Bisher hatte ihr Moritz viel zugute gehalten, denn in anderer Hinsicht hatte sie sich als die einzig verläßliche Stütze des «Eisernen Zeit»erwiesen und das Haus zusammengehalten. Aber nun, da sie es symbolisch in Besitz genommen hatte, schien der Wahnsinn darin ausgebrochen, und Moritz hatte sich überzeugt, daß es nur noch durch einen scharfen Schnitt zu steuern war. Horners Sternwarte mußte weg. Plötzlich hatte Achermann gegen den Abriß, den der Denkmalpfleger gefordert hatte, nichts mehr einzuwenden.
    Moritz Asser suchte auch noch Hermann Frischknecht auf, um sich seiner Meinung zu versichern, und vernahm zu seiner Erleichterung, daß sich Hermann seit Jahren nichts dringender wünschte als das Verschwinden der Sternwarte, in der es seit Marybels Überhandnehmen weniger geheuer war denn je. Allerdings sah auch der kluge Moritz noch nicht voraus, wie mit Marybel zu verfahren war, wenn man ihr den Boden unter den Füßen weggezogen hatte. Die Seelenruhe, mit der sie ihm drei Tage später Fanny Mosers Porträt auslieferte, hätte ihn stutzig machen müssen. Sie hatte auch dasjenige Horners abgenommen. Moritz teilte ihr mit, er habe bei Frischknecht gerade ein Tretrad besorgt, einen Ergometer, damit Hubert auch in

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