Sax
Marybel. – Er
sieht
es nicht.
Die große Depression, sagte Jacques. – Nur das nicht. Nie wieder.
Marybel führte die Agenda, besorgte Buchhaltung und Administration. Auch da war sie keine Naive mehr. Die Bank «zum Zinstragenden Sparhafen» würde nicht mehr lange ein Witz sein oder ein Phantom; Marybel wußte, daß große Kapitalzuflüsse zu erwarten waren, und machte sich so kundig wie möglich. Denn wenn Moritz nach New York ging, würde sie ihn zu vertreten haben. Man wollte das Haus kaufen, sobald sich die Gelegenheit ergab. Inzwischen hatte sich auch Thomas Schinz wieder gemeldet; Marybel argwöhnte allerdings, daß er sie als Agentin zu gewinnen hoffte, da er sie für ein Opfer hielt, eine von Jacques ebenso grenzenlos Gekränkte, wie er selbst es war. Aber sie trieb ihr eigenes Doppelspiel, das mit den Rechnungen der Herren nichts zu tun hatte. Das zweite Pflichtenheft, das sie führte, stand freilich nirgends geschrieben als in ihrem Herzen, dort aber um so fester. Erst beides zusammen machte sie zur Frau des Hauses.
8
1972/73. Zwei gehen
Peter Leu, immer noch Hausherr, belegte die andere Seite von Marybels Etage. Schon Thomas hatte über ihn nur die Achseln zucken können. Briefmarken – da ist keine Musik mehr drin. Jetzt ist auch das Herz nicht mehr dabei. Seine Frau hat ihn schon lange verlassen – außer physisch. Sie war eine Schönheit, jetzt ist sie schon so grau wie er.
Aber Marybel
spürte
den grauen Mann. Die Energie war noch nicht ganz weg, nur fehlte es ihm am Nötigsten, das hatte sie schon beim Einzugsfest erfaßt. Als sie ihm später im Treppenhaus begegnete – er schleppte sich kaum noch in sein Geschäft hinauf –, erklärte sie, wie gern sie in ihrem neuen Büro sitze, der guten Stube der Familie. Daran denke sie mit Dankbarkeit, wenn sie ins Lindengrün hinausblicke, das sich so unermüdlich bewege. Als sie Tränen in seinen Augen sah, faßte sie ihn an, spontan, aber prüfend, an Schulter und Hals.
Diese Blockaden könnten eine Massage gebrauchen. – Und als er zu ihr aufsah wie ein geschlagener Hund: Warum nicht gleich? Zehn Minuten – können Sie abspannen?
Sie war aufrichtig erschüttert, als sie sein Rückzugsgebiet betrat. Es war eine Rumpelkammer, zugestellt mit Familienmöbeln; zugleich stand die Luft zum Schneiden dick. Sie riß alle Fenster auf und zupfte das ungemachte Bett glatt, damit er sich hinlegen konnte. Dann schloß sie die Augen und begann ihn abzufühlen, wie sie es in Big Sur gelernt hatte.
Leu reagierte mit einem völligen Zusammenbruch. Sie hieltseine Hand, bis er eingeschlafen war, tränengebadet, geschwollen wie ein Säugling. Es war zehn Uhr morgens. Marybel ging in Leus Geschäft, damit Vera Bescheid wußte. Als sie später nach ihm sah, war er wach, aber wirkte entrückt und hatte ein bestimmtes Leuchten in den Augen. Sie sah, daß sie ihn kurzhalten mußte. Sie würde ihn regelmäßig behandeln, aber erst, wenn er seine Wohnung saubergemacht hatte.
Schon am nächsten Tag klopfte er an, um Vollzug zu melden, und Marybel begann Wunder zu wirken. Bei der ersten Sitzung lockerten ihre Hände den Würgegriff der Resignation; bei der zweiten lösten sie auch die Zunge. Peter Leu gab Stück um Stück seiner Geschichte preis, zuerst derjenigen seiner Eltern und ihres Fluchs. Sein Elend begegnete nun zum zweiten Mal einem menschlichen Ohr. Und dieses hörte immer besser und immer mehr.
Peter Leus Tinnitus eröffnete ihr Zusammenhänge einer neuen Größenordnung. Sie hatte Wand an Wand mit einer geistigen Welt gelebt – sogar mit einer verborgenen Architektur. Dem Haus war eine Sternwarte eingefleischt wie ein ungeborener Zwilling. Sie selbst hatte den schwarzen Kubus mit Geißblatt verkleidet, ohne zu ahnen, daß er Horners Kuppel verbarg – einen Hort der Geister, die ein Kapuziner gebannt glaubte, als er ihn mit geweihtem Holz versiegelt hatte. Aber diese Geister summten immer weiter in Peter Leus Ohr, sprachen sogar aus seiner Stimme, dumpf geworden, bis zur Unkenntlichkeit verstellt. Er hatte als Kind Frau Dr. Fanny Moser noch selbst erlebt, welche diese Geister belauscht hatte, allein auf dem Dach, bevor sie selbst zu ihnen überging – weil sie mehr erfahren hatte, als ein Mensch über die
andere Seite
wissen darf, oder weil sie von ihr unwiderstehlich angezogen worden war …
Ach Caspar!
Bei diesem Herzensseufzer hatte sie sich schon zwischen Leben und Tod befunden – eine Schwelle, die Marybel gut hüten mußte, seit sie der Liebste
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