Sax
fast überschritten hätte. Und damit eröffnete ihr Leu ein Forschungsgebiet, von dem er selbst sich nichts träumen ließ. Sie aber hatte nie von etwas vergleichbar
Wirklichem
geträumt;und diesen Traum galt es nun zu
leben.
Sie fühlte sich berufen, einer verborgenen Wirklichkeit nachzutasten wie den Knoten und Krämpfen Peter Leus. Und es war ihr klar: nicht Geister müssen erlöst werden, sondern Menschen, denen vor Geistern schaudert.
Und nun übte sie dreimal wöchentlich die Kunst, Peter Leu mit ihren Fingern besser zu lesen, als er sich selbst las, und plötzlich erwies sich die Rumpelkammer als Goldgrube. Leu senior hatte jedes Wort gesammelt, das die verehrte Fanny Moser publiziert hatte, von ihren meeresbiologischen Studien bis zu ihrem unvollendeten «Spuk». «Jetzt verstehe ich alles», waren die letzten Worte des über Nacht ergrauten Mannes. War ihm Fanny Moser erschienen? Hatte sie ihm den nahen Tod angekündigt, die Augen geöffnet über ein ganzes unverstandenes Leben? Wenige Stunden später war er in dem Lehnstuhl eingeschlafen, den Peter Leu in einer dunklen Ecke versteckt hatte. Leu mußte diese Hinterlassenschaft vor seiner Frau Elisabeth geheimhalten. «Moser» war ein verbotenes Wort. Aber jetzt übernahm Marybel eine ganze verbotene Bibliothek. Sie nahm den Faden auf, wo er an Fannys letztem Erdentag – dem 24. Februar 1953 – gerissen war, und tastete sich daran in die Tiefe der Vergangenheit zurück.
Es zeigte sich bald, daß Fannys Biographie, für sich allein schon abenteuerlich genug, vom Familienroman der Mosers nicht zu trennen war. Fannys Fallstudien belegten, daß Spuk in der Familie übertragen, sogar auf die nächsten Generationen vererbt wird. Was sich zeigt, ist der Geist der Beteiligten, doch an ihren Spannungen und Konflikten weiden sich auch ganz andere Geister und benützen sie für ihre eigene Darstellung. Es leuchtete Marybel ein, daß sie selbst Teil dieser Familie werden müsse, Fannys kleine Schwester, bevor die große bereit war, Geheimnisse mit ihr zu teilen.
Peter Leu hatte noch ihre eindrucksvolle Erscheinung gesehen; ihr Porträt, das seinem Vater so teuer gewesen war, hatte er Thomas Schinz überlassen, den es verzaubert hatte. Es hing über dem Flügel, in Thomas’ Villa, die sie, Maras wegen, nie betreten hatte.Nun, da diese Rücksicht hinfällig geworden war, blieb ihr sein Haus aus anderen Gründen verschlossen. Peter Leu hätte das Porträt nicht hergeben dürfen; sie sehnte sich nach diesem Bild. Es würde ihren Blick erwidern, dessen war sie gewiß.
Sie lernte Fannys Vater kennen, den Uhrmacher aus Schaffhausen und Uhrenkönig des Zaren, und flüchtiger seine erste Frau, für die er hoch über dem Rhein das Schloß Charlottenfels errichtet hatte. Gründlicher war die Bekanntschaft mit seiner zweiten Frau, und zugleich rätselhaft wie sie selbst, eine gebürtige Freiherrin («nicht Freifrau») von Wart, die zwei Töchter geboren hatte und die erste nach sich selbst Fanny nannte, während die zweite, Mentona, in Badenweiler das Licht der Welt erblickt hatte, als ihr Vater starb, zur gleichen Zeit, im gleichen Hotel. Fanny I war als Wöchnerin mit nicht viel mehr als zwanzig Jahren Witwe geworden und mußte sich nachsagen lassen, sie habe den Gatten vergiftet, um ihrem Nachwuchs den Löwenanteil seines Erbes zu sichern. Fanny II war beim Tod ihres Vaters zwei Jahre alt; Marybel las, wie die Urkatastrophe von Badenweiler drei Frauen lebenslänglich geprägt, getrennt und auch in sich selbst gespalten hatte; wie die ältere Fanny, noch keineswegs alt, sondern eine Schönheit und unsagbar reich, sich in das Landgut Au am Zürichsee gerettet hatte, wo sie einen Salon berühmter Männer unterhielt, von denen viele auch auf ihre Hand und ihr Vermögen spekulierten. Und während dieses Gesellschaftsspiels empfand sie ihren Anhang als Last, beklagte sich über die verstockte Mittelmäßigkeit der Töchter. Die jüngere Fanny tröstete sich am See, suchte ihr Leben am Wasser, wo sie es auch unbemerkt hätte verlieren können, darum wurde sie später Meeresbiologin, während die kleinere Schwester Mentona ihre Zuflucht zu den Vögeln nahm, die im Gebüsch sangen und im Schilf knarrten. Im Alter, als Asylantin im eigenen Land, sollte sie ein wunderbares Vogelbuch für Kinder schreiben, doch als Kind auf der Au hatte sie selbst flügge werden wollen, eine Stimme für die Verdrängten und Verdammten dieser Erde. Fanny I, die reichste Frau der Schweiz, hatte diesen
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