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Sax

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Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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Töchtern, als sie ausflogen und zustudieren begannen, so gut wie nichts zukommen lassen. Sie hatten gegen die Mutter gerichtlich vorgehen, ihre Entmündigung betreiben und am Ende doch ihren Tod abwarten müssen, bis sie ihren Anteil an der väterlichen Erbschaft herausbekamen. Es war immer noch mehr als genug für ein sorgloses Leben, wenn nicht beide größere Sorgen auf sich genommen hätten, Mentona für Waisen und Weltrevolution, Fanny für das Übersinnliche, die andere Welt inmitten der bekannten.
    Indem sich Marybel in diese phantastische Familiengeschichte hineinlas, wurde sie unmerklich Teil davon. Und daß ihr Anteil rechtmäßig war, bemerkte sie daran, daß sie Wunder wirkte.
    Leu hatte ihr Elisabeths Auszug, seinen eigenen Rückzug aus dem Elternhaus geschildert, womit der Spuk ein Ende zu nehmen schien, hätte ihm nicht der Tinnitus jeden Gang aufs Dach verbittert. Sie hatte sich dieses Schnalzen im Ohr schildern lassen und keinen Reim darauf machen können, bis sie ihm in ihren Quellen begegnete – und vielleicht an der
wahren
Quelle. Fanny I hatte in ihrem Salon auf der Au auch einen jungen Wiener Nervenarzt namens Freud empfangen, der seine Patientinnen hypnotisierte, damit sie ihm den Ursprung ihrer Leiden verrieten, ohne daß ihr strenger oder schamhafter Verstand sie daran hindern konnte. Um die Entblößung der wahren Motive zu erleichtern, massierte der Arzt die Damen, die man damals hysterisch nannte, am ganzen Leib und verglich dann die Antworten, die sie sich in diesem Zustand entschlüpfen ließen, mit denen, die sie im gesellschaftlichen Verkehr zu geben pflegten. Bei dem Kommandoton, den Freud anwandte, verwunderte sich Marybel allerdings kaum, daß die Damen sich von ihm nicht nachhaltig kurieren ließen. Dennoch war Fanny I nach Wien gereist, um sich seiner Behandlung zu unterziehen, weil ihre Töchter, namentlich Fanny II, sie krank machten. Wenn Marybel die hinterher von Freud verfaßte Fallstudie recht las, hatte Fanny I ihren Arzt nicht weniger als Forschungsobjekt behandelt als er sie. Sie hatte an ihm ihre Fähigkeit erprobt, den Zumutungen der Männer, ihren Massagen, Unterstellungen und Hypnosen, Widerstandzu leisten. Sein Honorar blieb sie nicht schuldig, wohl aber ihre Besserung. Gleichzeitig ließ sie auch Fanny II, die, gerade siebzehn, an beständigem Bauchweh litt, von einem Wiener Gynäkologen behandeln. Der Massageeffekt war bei beiden Frauen nicht von Dauer, führte bei Fanny II sogar zu einer schweren nervösen Erkrankung. Dennoch wiederholte Fanny I ihren Besuch in Wien noch einmal, um den gleichen Mißerfolg zu erleben und diesen Dr. Freud danach für immer von der Gästeliste in der Au zu streichen. Als er der große Vater der Psychoanalyse geworden war, gestand er das Unzulängliche seiner früheren Methode selbst ein. Und doch: unter dem Pseudonym Emmy v. N., einer vorgeblich livländischen Witwe, war Fanny I als mißratenes Gesellenstück nicht nur in die Geschichte der Psychoanalyse eingegangen, sondern hatte mit sperriger Hand daran mitgeschrieben.
    Marybel hatte das Drama der beiden Fannys mit fliegendem Atem studiert, doch er stockte, als sie auf eines der Symptome stieß, mit dem «Emmy v. N.» den jungen Dr. Freud herausgefordert hatte.
Sie unterbrach sich häufig in der Rede, um ein eigentümliches Schnalzen hervorzubringen, das ich nicht nachahmen kann.
Und in einer Fußnote fügt der Arzt bei:
Dieses Schnalzen bestand aus mehreren Tempi; jagdkundliche Kollegen, die es hörten, verglichen dessen Endlaute mit dem Balzen des Auerhahns.
Der fremde Klang war eine Melodie, welche Fanny I, unbeeindruckt von Hypnose oder Massage, angestimmt hatte. Sie enthielt einen Code, den der Arzt hätte lesen müssen, um zu heilen. Statt dessen war er, wie ein Schwarzer Peter, weitergereicht worden, um sich siebzig Jahre später in Peter Leus Gehör einzunisten. Jetzt kam das Erlösen an sie, Marybel, die Vollendung von Freuds Werk.
    Sie sprach kein Wort, als sie nächstes Mal mit Leu zusammentraf, in seiner immer noch traurigen Absteige. Sie las mit den Fingerspitzen, lauschte mit dem Herzen. Sie hörte die Kreatur unter ihren Händen seufzen, wenn diese weitergaben, was ihre Augen im Buch gelesen, ihr Kopf dem Herzen gesagt und dieses bewahrt hatte, bis es auch ihr Kopf recht bedacht hatte. Nun aber massiertesie ihm das Resultat wortlos unter die Haut, und der Fluch entwich, seufzend, stöhnend, am Ende mit einem häßlichen kleinen Schrei.
    Jetzt sollte er sich

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