zu erwarten war, und auf ein Wochenende, an dem Sidonie in Dubai über den Bau eines Schweiz-Zentrums an der zehnspurigen Sheikh Zayed Road verhandelte. Diebold lief damit gewissermaßen
hors concours.
Außerdem blieb der Verkehr mit ihm Marybel überlassen. Die Adresse
[email protected] pflege immer schon in der nächsten Minute zu antworten, erklärte sie. Am Ende hatte die Penetranz des Mannes, so undurchsichtig sie war, auch etwas Amüsantes, und eine Prise Pfeffer tat dem manchmal etwas pompösen «Gugger» gut.
Diebold hatte als erstes verlautbart, über «Ursula» sei alles gesagt, er möchte sich zur Manessischen Liederhandschrift äußern, über die Keller ebenfalls Unwahrheiten verbreite. Einmal zum Galgenhumor gestimmt, ließ Achermann auch dies durchgehen. Diebolds Gewohnheit, historische Tatsachen in der Gegenwartsform abzuhandeln, erinnerte ihn an das Zeitverständnis der Islamisten, für welche ein Streit in der Familie des Propheten heute so frisch ist wie vor dreizehnhundert Jahren. Außer der Schmähschrift auf Zwingli schien Diebold, der sich Kirchenhistoriker nannte, nichts publiziert zu haben.
Achermann ließ den Termin auf sich zukommen, doch am 25. September war es unerbittlich soweit. Achermann hatte Sidonie und Salomon am Morgen zum Flughafen gefahren, eine Stunde zu früh, denn die Umstellung auf Winterzeit war ihnen entgangen. Die Witterung aber schien sich danach zu richten, denn gegenAbend breitete sich im Seebecken dichter Nebel aus, durch den Achermann im Schritt zum Bahnhof fahren mußte. Als er eintraf, war Diebold schon da und erwartete ihn vor dem Stellwerk. Auch ohne Personenbeschreibung war seine Identität nicht zweifelhaft; er war eine zu auffallende Erscheinung. Der fußlange schwarze Mantel und der ebenfalls schwarze Hut ließen ihn überlebensgroß erscheinen. Die schlaffe Krempe seines Borsalino verschattete seinen Blick, und als Achermann ihm die Hand reichte, erwiderte sie den Druck kaum merklich, schien dafür länger liegenbleiben zu wollen, feucht und schwer. Der fleischige Mund sah aus, als wäre er eher zum Saugen als zum Reden geschaffen, und zeigte in geöffnetem Zustand – Diebold hatte einen tiefen, fast röchelnden Baß – ein lückenhaftes Gebiß. Fiel einmal Licht auf seine Augen, sah man, daß sie gerötet waren. Ihr Blick wirkte schwül; so hätte sich der junge Keller einen Jesuiten vorgestellt. Diebolds Rede war gravitätisch, wobei er jedes Wort mit den Kiefern mahlend vor- und nachzukosten schien. Er trug eine so gewichtige schwarze Tasche, daß Achermann versucht war, sie ihm abzunehmen; Diebolds Alter war kaum zu schätzen. Er hatte einen stakenden Schritt, bei dem grobes Schuhwerk sichtbar wurde.
Was für ein Auto! sagte Diebold, als er in den Jaguar einstieg. Der «Gugger» lag über der Nebelgrenze; man blickte über die in Watte verpackte Tiefe auf ein gestochen scharfes Bergpanorama, doch Diebold gönnte ihm keinen Blick. Er trank auch keinen Alkohol, es blieb bei einem Glas Wasser, das am gedeckten Tisch im «Marignano» serviert wurde. Hier wollte man nach dem Vortrag noch im kleineren Kreis zusammensitzen. Achermann erkundigte sich vorsichtig nach den Lebensumständen des Gastes, der wortkarg blieb. Er wohne im Stadtkreis 13, hinter dem Lindenberg, und sei verheiratet. «Als Privatgelehrter lebe ich von der Kunst meiner Frau.» – Seine Frau sei Künstlerin? Wo man ihre Bilder sehen könne? – Nur privat. – Ob ihm recht sei, wenn das Publikum hinterher Fragen stelle? – Es war ihm recht.
Von zweihundert Plätzen des verkleinerten Rudolf-Minger-Saalswaren vielleicht zwanzig besetzt; in der ersten Reihe saß Marybel allein. Doch die sogenannte eiserne Garde Sidonies, das Grüppchen um den Allgemeinpraktiker Dr. Adank mit Gattin, fehlte nicht; er versäumte keinen Anlaß auf dem «Gugger» und transportierte andere Unentwegte herbei. Achermann begann die Vorstellung, entbot den Gruß der leider verhinderten Hausherrin und beschränkte die Würdigung Diebolds auf dessen Plädoyer für historische Wahrhaftigkeit, das man seiner Analyse von Kellers «Ursula» entnehmen konnte. Nun durfte man gespannt sein auf seine Eröffnungen zur Manessischen Liederhandschrift, der bedeutendsten des Mittelalters, und eine Quelle der Inspiration für Kellers «Züricher Novellen».
Diebold schien die spärliche Zuhörerschaft nicht zu kümmern. Er hatte weder Mantel noch Hut abgelegt. Wie der schwarze Winter stand er in dem geheizten Saal und lehnte seine