Sax
Papierserviette zu zeichnen. Mit ein paar Strichen entstand ein Straßenschema, das er mit steiler Hand beschriftete.
Grabenwies 29, wiederholte Achermann, als er das Papier entgegennahm, das ihm Diebold wie eine Visitenkarte überreichte.
In sieben Minuten hätte ich einen Zug.
Sie erreichten den Bahnhof, als der Zug schon eingefahren war, aber eine einzige automatische Tür blieb offen, nur für Diebold. Und bevor Achermann sich wundern konnte, fuhr der Zug an. Bis morgen, sagte er laut zu sich selbst, und eine Dame auf dem Bahnsteig drehte sich nach ihm um.
Diesen Montag abend würde Hubert Achermann nicht mehr vergessen. Doch erinnerte er sich auch nie genau daran. Die Stunden, die er bei Diebolds verbracht haben mußte, glichen einer Gegend, über die Wolkenschatten streichen; sie löschen das Bild, und wenn es wieder Licht hat, ist die Gegend nicht wiederzuerkennen.
Am Vormittag im Büro war er bei Marybel stehengeblieben; sie schrieb Briefe Fanny Mosers an Sigmund Freud ab, und Achermann las: «Sie sind also jene Fanny, die uns so viele Sorgen gemacht hat.» Er berichtete, daß er bei Diebold eingeladen sei, und bat sie, den Lageplan auf der Papierserviette mit dem Stadtplan im Internet zu vergleichen. – Es war nicht schön, was er zu dir gesagt hat.
Ich hatte vergessen, wie er die Frauen haßt. – Ich finde keine Straße namens Grabenwies. Soll ich ihm mailen?
Nicht nötig, ich folge seinem Plan. Finde ich ihn, gut. Wenn nicht, auch gut.
Nimm dich in acht, Hubert, und nimm ihn ernst. Er kann böse werden.
Das Finden des Hauses bereitete Achermann keinerlei Mühe. Er geriet in eine kleinbürgerliche Siedlung, vielleicht aus den vierziger Jahren, die gänzlich zugeparkt war; doch ausgerechnet vor Nr. 29fand sich eine Lücke. Achermann erstieg ein Treppenhaus, in dem die Stufen aus Kunststein und die braunen Wände mit oft verletztem Leinen bezogen waren. Das Sparlicht erlosch immer schon nach zehn Schritten. Vor den Etagentüren häuften sich Kinderwagen, zerschlagene Skateboards und volle Müllsäcke. Im fünften Stock bellte ihm aus einer offenen Tür ein Tier entgegen, ein Bluthund; zum Glück hielt ihn jemand am Halsband fest. Es war Anastas Diebold.
Er war ohne Mantel, doch immer noch in Schwarz und trug einen Anzug mit Weste und Silberknöpfen, dazu ein Käppchen. Er reichte Achermann die feuchte Hand und bemerkte, die Hündin sei läufig. Sie trug einen Gürtel aus schwarzem Leder, der nur den Schwanz frei ließ. Im Windfang beschnupperte ihn das Tier mit törichtem Eifer, puffte ihn an und ächzte herzzerreißend. Zischge! warnte Diebold, und die Hündin warf sich in ihren Korb. Die Wohnung befand sich in einer Art Auflösung, denn die Wände waren, so weit das Auge reichte, aus Bildchen zusammengesetzt, so lückenlos, daß sie Achermann zuerst für ein Tapetenmuster gehalten hatte. Aber es waren Miniaturgemälde in weißen oder schwarzen Papiermasken, und das Motiv schien immer dasselbe: ein grau-grünes Stück Landschaft mit einer doppelt gewölbten Bodenform. Sie wurde von der immer gleichen tiefliegenden Wegspur durchschnitten, die nach immer gleicher schwacher Biegung nach links in fast schwarzem Buschwerk verschwand.
Aus der Nähe betrachtet, war denn doch kein Bildchen wie das andere und jedes ein penibel ausgeführtes Original. Die Endlosgalerie setzte sich im Wohnzimmer fort, dessen Hintergrund ein gedeckter Eßtisch einnahm, mit Mohnsträußen und brennenden Kerzen geschmückt. Vorn zwei Sessel im Neubarock der fünfziger Jahre; nur das Sofa war älter: ein langes Ruhebett, dessen grüner Polsterüberzug mit einer Reihe Messingnägel am Holzunterbau befestigt war. Darüber, an der einzigen weiß gebliebenen Stelle der Wand und wie ein Diplom gerahmt, hing ein Schriftbild, und Achermann erinnerte sich später an einzelne Zeilen:
Chemins qui ne mènent nulle part
Entre deux prés
Bis die Hausfrau erschien, wurde ein Aperitif kredenzt und der Name einer Fee dazu genannt. Absinth also, aber bläulich; wenn Eis dazugegeben wurde, trübte sich die Flüssigkeit zuerst und zeigte dann ein überirdisches Hellblau. Da das Essen auf sich warten ließ, führte Diebold den Gast in einen Nebenraum, auf den ersten Blick eine altväterische Studierklause, aber Bücher gab es nur an zwei Wänden, während die übrigen, einschließlich des Fensters, mit vergilbten Zeitungsausschnitten beklebt waren. Darauf war die Mumie des Freiherrn in allen Größen und aus jedem denkbaren Winkel abgebildet.
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