Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sax

Sax

Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
Vom Netzwerk:
der Bank sitzen, wo er seinen Anfall von Unwirklichkeit erlebt hatte.
    Bei der letzten Sitzung des «Zentralkomitees» war Moritz von der botanischen Metapher zu einer physikalischen übergegangen, von der parasitären Mistel zum radioaktiven Isotop. Um die unwahre Gesellschaft mit ihrer eigenen Kraft zu destabilisieren, mußte man die normalerweise ruhiggestellten Ungleichgewichte in ihrem Kern der festen Bindung berauben und damit aktivieren. Ein Isotop war die Ritze, an welcher der revolutionäre Hebel angesetzt werden konnte, um die Selbstähnlichkeit einer Materie zu spalten.
    Aber wenn Hubert Achermann die schöne Welt zu seinen Füßen betrachtete, schien ihre Selbstähnlichkeit unerschütterlich. Sie hatte ihre Materie lückenlos zur geschlossenen Oberfläche verfestigt. Der «Gugger» war das Isotop eines alten Bauernhauses, das sich an dessen Stelle gesetzt hatte. Die
Form
seines Verschwindens war lückenlos. Und in diesem Augenblick kümmerte Achermann auch die politische Rechnung nicht mehr, für die Melchor Schieß «Martin Salander» als Unterlage benützte, um ihm seine eigene Handschrift einzugraben.
    Immerhin war er zur Stelle, um Schieß zu verabschieden. Dieser bemerkte, bevor er in seine Limousine stieg: Ihre Frau hat Sie vermißt.
    Sidonie aber sagte: Das nächste Mal entschuldigst du
mich
, bitte. Ich fliege mit Salomon nach Dubai, und wer kennt diesen Diebold? Er war
deine
Idee.
    Tatsächlich ging Diebolds Engagement auf Marybel zurück. Sie hatte in der Postille eines Gottsucher-Vereins einen Artikel gelesen, der ihr imponiert hatte. Eigentlich war er ein Pamphlet gegenZwingli. Mit Keller hatte er nur insoweit zu tun, als die Darstellung des Reformators in «Ursula», der letzten «Züricher Novelle», heftig gerügt wurde. Kellers Urteil sei durch seinen «zweideutigen Atheismus» bestochen gewesen; durch die bürgerliche Heiligsprechung Zwinglis wolle er vergessen lassen, daß er selbst ein Taugenichts geblieben sei. Aber mit Zwingli lasse sich kein Staat machen. Seine Schwäche für das andere Geschlecht habe ihn schon in Einsiedeln zum unehelichen Vater werden lassen. Und die Härte, die er gegen die Täufer gezeigt hatte, sei nichts als eine Form von Schwäche gewesen wie auch sein Versuch, die übrige Eidgenossenschaft zu seinem Glauben zu bekehren; damit habe er sie unter- und seine Zürcher überschätzt. Das einzige, was er erreicht habe, sei eine Spaltung der Eidgenossenschaft, und seinen Tod in der Schlacht bei Kappel könne man nicht anders als dilettantisch nennen. Die Schrift hatte etwas von der giftigen Abrechnung eines enttäuschten Liebhabers, der von der Schwäche seines Objekts besessen bleibt, weil er ihm die eigene dauerhaft zum Vorwurf machen kann.
    Marybel hatte einige Kernsätze von Diebolds Tirade vorgelesen, und da sich Achermann gerade auf die Korrektur eines Diktats konzentrierte, hatte er abwesend genickt und erst festgestellt,
wozu
, als der Schaden schon geschehen war. Denn Marybel hatte sein Nicken als Zustimmung zu ihrem Vorschlag gedeutet, den er überhört hatte: diesen Diebold als Referenten für den «Gugger» zu gewinnen, da er offenbar das Zeug besaß, ein Publikum aufzumischen. Bei klarem Verstand hätte er ihr sagen müssen, daß dies keineswegs der Zweck der «Gugger»-Referate war und daß man wenigstens einen
Namen
haben müsse, um sich dort einzureihen. Aber nun hatte er geschlafen, und als er aufwachte, hatte Marybel bereits vollendete Tatsachen geschaffen. Mit Hilfe eines sogenannten Internets, von dem Achermann zum ersten Mal hörte, hatte sie diesen Diebold angeschrieben, und als das Diktat durchgesehen war, lag bereits seine Zusage vor – innerhalb von fünf Minuten; als hätte der Mensch Tag und Nacht auf diese Anfrage gewartet.
    Hinterher, und im Lichte all dessen, was aus dieser voreiligenDienstleistung folgte, kann man sie einen Anschlag nennen. Anderseits ist nicht einzusehen, warum Marybel Achermann tödlich treffen wollte – was hatte er ihr getan? –, wenn es nicht auf Ruf und Renommee Sidonies abgesehen war, die für Marybels Seelenhaushalt eine ähnliche Rolle gespielt haben muß wie Zwingli für Diebold. Das alles aber überblickte Hubert Achermann anfangs nicht. Er ärgerte sich nur über Marybels Eigenmacht und seine eigene Geistesabwesenheit. Den Mut, die Einladung Diebolds zu annullieren, fand er nicht, bemühte sich aber, den Schaden zu begrenzen. Er schob den Vortrag vom Matinee-Termin auf den Sonntagabend, wo kaum Zuspruch

Weitere Kostenlose Bücher