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Sax

Sax

Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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Manchmal wünschte er, Sidonie könnte mit Fritz glücklich werden. Die Seltenheit von Glück und seine Empfindlichkeit waren ihm bewußt geworden wie noch nie. Warum sollte er ihm übelnehmen, wenn es nicht gerade bei ihm vorbeikam?
    Auch in Horners Weltreise hatte sich ein Glück versteckt und versagt. Ihm, der ebenfalls Bäckersohn, ebenfalls abgebrochener Geistlicher war, begegnete es in der Südsee, in Gestalt grenzenlos williger Frauen. Aber begegnete es
ihm
auch nur ein einziges Mal? Anderen ja, den gröbsten Matrosen – er aber hatte immer nur, wie durch ein Teleskop, aus der Ferne
zugesehen.
Was er sehen mußte, zu sehen nicht aufhören konnte, war verworfen. Und doch blieb er am Guckloch, um sich zu weiden und zu schämen. Die Moral, hinter der er Schutz suchte, verriet sich selbst. Damit mußte er leben; damit sterben konnte er nicht. Am verworfenen Glück blieb ein Elend hängen, das ihn noch im Tode nicht ruhen ließ. Schließlich lieh ihm die vereinsamte Fanny ihr Ohr und gab ihm Antwort:
Caspar, ach Caspar
. Wenigstens als Toter durfte er wagen, Glück zu entbehren. Sein Geständnis legte er einer Frau ab, die den Mut hatte, auf Geister zu hören. Sie aber empfing es als Ruf, ihm in seine Sphäre zu folgen, wo zwar nicht das Glück vollkommen ist, aber seine Entbehrung. Denn Glück ist an Körper gebunden; wie könnte es vollkommen sein, solange wir am Körper leiden.
Es muß nicht vollkommen sein
. Es muß nicht gelingen, doch gewagt sein, das will es. Nur in der Entbehrung ist Vollkommenheit zu erreichen. Darum hatte der schreckhafte Peter Leu die vereinigten Geister
jubeln
gehört.
    So ungefähr – und wiederum: ganz genau so – darf man sich die Phantasien vorstellen, die Hubert Achermann in der Kuppel, nirgends sonst, zuflossen; dann wußte er, daß er sich in Horners Schädel befand. So seltsam es klingt: er lernte die körperliche Liebe, die ihm fehlte, heilig halten.
    Die Fastenabende mit Jacques blieben ein fester Termin. Er hatte Jacques von der Matinee berichtet, auch vom Eindruck, den Vater Schinz nach seinem Schlaganfall auf ihn gemacht hatte. Deralte Mann hatte den Mut aufgebracht, sich mit schiefem und halboffenem Mund in Gesellschaft zu zeigen. Aber Jacques blieb taub, für seinen Vater sei ihm sogar Haß zu schade. Es war nur seine eigene Arbeit, die ihn interessierte. Damit meinte er die Begleitung Florians beim Versuch, ein Mann zu werden. «Ich soll ihm zeigen, warum es sich lohnt, aber eigentlich lerne ich es von ihm.»
    Achermann hatte Florian kennengelernt, als er die Sternwarte besuchte; der junge Mann wohnte bei Jacques, zusammen mit dem lesbischen Paar. Er hatte die Hormonbehandlung begonnen und trug eine Art Russenkittel, der seine noch weiblichen Formen verbarg. Wenn er redete – nur das Nötigste –, schwankte seine Stimme, und seine Bewegungen waren eckig und ungraziös. Seinem blassen, verschlossenen Gesicht war die Gewalt anzusehen, die er sich antat. Es hatte eine martialische Strenge, die trotzig wirkte. So viel war deutlich, daß Jacques den jungen Menschen liebte – seinerseits nicht ohne Mühe.
    Ende des Monats ist Moritz wieder da, sagte Achermann, er meint, wir brauchen eine Grundsatzdiskussion.
    Dann wird ja alles gut, höhnte Jacques. – Moritz übersieht das Ganze. Sozialismus kaputt – höchste Zeit für eine Sitzung des Zentralkomitees. Die Jahrtausendwende naht mit Riesenschritten. Als Kind habe ich immer gedacht: die erlebe ich nie. Wie sollte ich fünfundfünfzig werden! So alt war damals ja noch nicht mal mein Vater. Hast du übrigens was vom
millennium bug
gehört? Er ist das neue apokalyptische Tier.
    Er bedeute, daß am 1.1.2000 die Computer abstürzten. Alles könnten sie rechnen, doch bis hundert zählen hätten sie nicht gelernt. Die Programmierer hätten versehentlich ein Verfallsdatum in ihr Produkt eingebaut. Wahrscheinlich bleibe die erste Nacht des neuen Jahrtausends dunkel, und es müsse von Hand eingeläutet werden.
    Achermann fehlte beim zweiten Vortrag des Gottfried-Keller-Zyklus. Melchior Schieß versprach eine politische Zeichensetzung«mit Ecken und Kanten». Der Verdacht, daß es sich beim BCG eigentlich um einen Stützpunkt der Vaterlandspartei handele, würde sich durch die dem Volkstribun eigene Sprache erhärten. Er war Sidonies Patenonkel, sie hatte sich seine Einführung nicht nehmen lassen. Achermann aber blieb fern – keine Demonstration. Er kehrte einfach von einem Morgenspaziergang nicht rechtzeitig zurück, blieb auf

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