Sayuri
Welt voller Magie – all das, was sie mit kindlichem Staunen erfüllt hatte.
Jetzt konnte sie nicht mehr staunen. Konnte erst recht keine Worte formen. Allein wach zu bleiben beanspruchte ihre gesamte Kraft.
Hilflos stolperte sie weiter.
Marje.
Marje.
Marje.
Der Gedanke setzte sich in einem Winkel ihres Hirns fest, wollte nicht mehr von ihr weichen. Mit jedem Schritt dachte sie den Namen, sprach ihn aus, ohne die Lippen zu bewegen.
Die trockene Wüstenluft brannte in ihren Augen. Da, ein Sirren ertönte. Shio? Das kleine Irrlicht war im Licht der Sonne kaum wahrzunehmen, aber Sayuri heftete ihren Blick auf ihn.
»Bring mich zu Marje«, bat sie. Das Irrlicht verstand, wie es sie schon immer verstanden hatte.
Neuer Mut erfüllte sie und ließ sie ungeahnte Kräfte entwickeln. Fast schon hatte sie den Hang des Kamms erreicht, als ein dumpfes Krachen ertönte, gefolgt von einem mächtigen Donnern. Das Geräusch brachte Sayuri die Erinnerung wieder.
Die Mine war eingestürzt! Deswegen waren Yuuka und Suieen verschwunden. Vielleicht waren Gefangene unter der Erde gewesen, die verschüttet worden waren. Kiyoshi! Ihm hatten sie helfen wollen.
Für einen Moment kam es Sayuri so vor, als ob sie schwankte. Doch dann merkte sie, dass es diesmal die Erde war, die bebte. Verzweifelt versuchte sie sich auf den Beinen zu halten, doch sie hatte keine Chance. Völlig entkräftet drehte sie sich auf den Rücken, spuckte Sand aus und wischte ihn sich aus dem Gesicht. Ihre Augenlider schlossen sich wider Willen.
Was war das? Fast fühlte es sich an, als würde sie von einer fremden Macht in den Sand gedrückt, tiefer und immer tiefer. Sie hörte noch, wie Shio eine verzweifelte Anstrengung unternahm, sie aufzuwecken, dann verlor sie das Bewusstsein.
Kiyoshi horchte erst auf, als das dumpfe Krachen zum zweiten Mal ertönte. Es klang, als würden Arbeiter mit Wucht große Steinbrocken aus dem Fels schlagen, die dann donnernd auf den Boden schlugen. Nur das rauschende Geräusch, das im Anschluss daran zu hören war, mochte dazu nicht passen.
Wie er hielten auch die anderen Gefangenen in ihrer Arbeit inne und lauschten ängstlich in die Dunkelheit. Kein Hämmern oder Rufen war mehr zu vernehmen, um sie herum war alles still. Wie in einem Grab, dachte Kiyoshi und zwang sich, seine Angst niederzuringen.
Er zog den Kopf ein und kroch unterhalb der niedrigen Decke ein Stück zurück. »Wir müssen so schnell wie möglich nach oben!«, rief er.
Ein erneutes Grollen erfüllte den Gang. Wie erstarrt blieb er liegen und wartete mit klopfendem Herzen, bis das Geräusch verklang.
»Ist die Decke runtergekommen?«, fragte eine Stimme ängstlich. Sie klang sehr jung.
Kiyoshi schluckte. Der gleiche Gedanke war auch ihm gerade gekommen, doch er wollte sich einfach nicht vorstellen, was es bedeutete, wenn die Mine einzustürzen drohte.
»Ich will hier raus!«, tönte plötzlich eine Stimme aus der Dunkelheit. Kiyoshi hörte Fäuste und Hämmer gegen die Wand schlagen. »Ich will raus, lasst mich hier raus, ich will nach draußen!«
»Hör auf damit!«, fauchte ein anderer. Das war Thesu. Fast augenblicklich wurde es wieder still.
Unsicher leckte Kiyoshi sich über die trockenen Lippen und warf einen Blick auf die Lampe, deren Licht im Dunkeln schwach flackerte. Lange würde sie nicht mehr brennen und dann waren sie in der Dunkelheit gefangen.
»Hört mal zu, Leute«, sagte er und versuchte, das Beben in seiner Stimme zu unterdrücken. »Wir müssen ruhig bleiben. Wir kriechen jetzt einer nach dem anderen durch den schmalen Schacht zurück in den Hauptstollen. Von dort können wir einen der Ausgänge erreichen. Wir dürfen nur nicht in Panik geraten.«
Wieder war Thesu es, der als Erster etwas sagte. »Er hat recht. Ich geh zuerst und seh nach, ob der Weg versperrt ist.«
Kiyoshi nickte. »Dann übernehme ich die Nachhut. Wisst ihr, wie viele wir sind?«
»Wir sind vierzehn hier unten«, hörte er eine Mädchenstimme wispern.
Kiyoshi nahm die Lampe vom Haken, reichte sie Thesu und machte Platz, damit der Junge sich an ihm vorbei in den schmalen Gang zwängen konnte, der zurück zum Stollen führte. Als die Lampe mit Thesu im Fels verschwand, wurde es dunkel um ihn herum, doch Kiyoshi konnte spüren, wie einer nach dem anderen an ihm vorbeihuschte, immer darauf bedacht, sich an die Füße des Vorgängers zu hängen. Würden sie den Kontakt zu dem Lichtträger verlieren, würden sie alleine in dem tiefschwarzen Schacht
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