Sayuri
Nach einigen Schritten jedoch blieb der Greif stehen und zog seine Flügel an.
Noch bevor sie selbst handeln konnte, hoben starke Hände sie vom Rücken des Greifs. Suieen sprang neben ihr in den Sand und legte stützend einen Arm um ihre Schulter.
Wieder fühlte sie diese betäubende Müdigkeit. Wie konnte das sein? Es war so viel Magie gewesen, die sie aufgenommen hatte!
Suieen strich ihr eine blasse Strähne aus den Augen. Du hast auch viel Kraft verbraucht, erwiderte er ihren Gedanken.
»Sayuri?« Die Stimme klang fast schmerzhaft laut in ihren Ohren, im Vergleich zu Suieens Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern in ihren Gedanken war. »Sayuri! Bei Turu und Lauryn, wie kommst du auf den Rücken eines solchen Untiers?« Es war Milan, der sich auf Krücken durch den Sand schleppte, von seinem Freund Thalion zusätzlich gestützt.
Mit einem krächzenden Laut machte sich der Greif bemerkbar und trat hinter Sayuri. Sie spürte den harten Schnabel, der leicht ihre Schulter berührte, als würde er eine stumme Frage an sie richten.
Sie nickte, aber Suieen schüttelte den Kopf. Es hat keinen Sinn, widersprach er. Du bist zu schwach.
Sayuri wollte protestieren, aber ihre Stimme versagte ihr. Sie streckte den Arm aus, um sich an Suieen festzuhalten, doch ihre Hand griff ins Leere, ihre Bewegungen waren langsam und träge geworden. Vor ihren Augen verschwammen die Wüste und das Lager. Wir müssen durch die Wüste, wir müssen fort von hier!
Thalion fing sie auf, als sie strauchelte und das Gleichgewicht verlor.
»Was ist mit ihr?« Sie sah noch, wie Milans besorgtes Gesicht über ihr erschien.
»Sie ist sehr erschöpft«, hörte sie Suieens verzerrte Stimme wie von weit her.
Dann fiel sie in eine tiefe Schwärze, die all ihre Sinne betäubte.
Unruhig tanzte der rote Schein des Irrlichts durch das kleine Zelt und malte düstere Schatten auf die ernsten Gesichter der Anwesenden, deren Blicke auf das einzige geschlossene Augenpaar gerichtet waren.
Leicht hob sich Sayuris Brust unter der Decke und fast schien es, als könnte sie jeden Augenblick aus dem Schlaf schrecken. Aber alle Bemühungen von Marje oder Shina waren umsonst gewesen, Sayuri lag in tiefem Schlaf.
Seit ihrer Ankunft war Suieen nicht mehr von ihrer Seite gewichen und auch Kiyoshi und Milan waren ins Zelt gekommen. Beide waren schwer angeschlagen. Um Kiyoshis Schulter zog sich ein frischer Verband. Er wirkte müde und mutlos. Milan schien es etwas besser zu gehen, auch wenn inzwischen offensichtlich war, dass er nie wieder richtig würde laufen können. Nur mithilfe der Krücken konnte er sich vorwärtsstemmen und die Frustration hatte verkniffene Falten in sein Gesicht gegraben.
Ihre kleine Gemeinschaft hatte Verluste hinnehmen müssen, die sie alle bitter schmerzten. Sie hatten ihre Toten bereits begraben, ehe die unerbittliche Wüstensonne ihnen zusetzen konnte. Die Zentauren hatten sich um die Leichname ihrer Feinde gekümmert. Doch wenigstens hatte ein Großteil der jüngeren Kinder, Mädchen und Frauen den Kampf unbeschadet überlebt. Einige hatten die Wälder der Zentauren erreicht, der Rest hatte sich in den Minen versteckt.
Es war so eng und stickig im Zelt, dass Marje in Versuchung geriet, den Vorhang am Zelteingang zur Seite zu schlagen und frische Luft hereinzulassen, aber noch wehte ein kühler Wind durch das schattige Tal und Suieen hatte ihr unmissverständlich klargemacht, dass Sayuri es so warm wie möglich haben sollte.
»Wir müssen sie ruhen lassen«, meinte Suieen mit einem Blick auf die reglose Gestalt. »Sie wird einige Stunden schlafen, bevor sich ihr Zustand verschlechtert.«
»Es wird noch schlimmer werden?«, murmelte Kiyoshi leise. »
Sie wird sterben, wenn wir nichts unternehmen«, antwortete Suieen kühl.
Marje schluckte. Ihr Mund war plötzlich ganz trocken und ihre Stirn fühlte sich heiß an. Suieens Worte klangen, als wäre Sayuris Tod eine unumstößliche Tatsache. Sie warf einen letzten Blick auf ihre Freundin, ehe sie widerstrebend hinter Kiyoshi nach draußen kroch. Kurz berührte seine Hand die ihre und er schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, doch sie konnte die Sorgen in seinen Augen sehen.
Kurz nach ihnen kam auch Milan aus dem Zelt. Er ließ sich von Marje die Krücken reichen und kämpfte sich mühsam hoch – auch wenn seine Beine kraftlos über dem Boden schleiften. »Hat Sayuri überhaupt noch eine Chance?«, wandte er sich an Suieen, der ebenfalls nach draußen gekommen war, um ein paar
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